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Foto: Ingvild Richardsen (TELITO)

Seehotel Überfahrt: Das Liebeskonzil (Oskar Panizza)

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Gasthof Zur Überfahrt, alte Postkarte.

Wo heute das Luxus-Seehotel Überfahrt steht, stand früher der Gasthof „Zur Überfahrt“. Damals verkehrten in ihm viele berühmte Menschen, Künstler, Gelehrte und Schriftsteller. Das Haus in der Ganghoferstraße 1, das seit 1897 im Besitz des Fotografen Emil Ganghofer war, und noch heute neben dem Luxus-Seehotel am Egerer Spitz steht, ist das Geburtshaus der bekannten und preisgekrönten Schriftstellerin Grete Weil (1906-1999).

Der frühere Gasthof Zur Überfahrt hatte einen Theatersaal, der 1803 vom damaligen Besitzer Josef Höß (1856-1919) erbaut wurde. Tatsächlich war er damals der größte Theatersaal im bayerischen Oberland und der Austragungsort vieler Festlichkeiten, Theateraufführungen, Konzerte und Tanzabende. Zudem war er die Heimstätte der sog. Ludwig-Thoma-Bühne. Aus dem Jahr 1908 ist ein Foto überliefert, welches das Ensemble des Bauerntheaters vom Gasthof Zur Überfahrt zeigt. Der letzte Wirt des Gasthofes war Hans Höß (1898-1971). 1965 wurde der herkömmliche Betrieb in diesem Theatersaal bedauerlicherweise von den neuen Besitzern eingestellt.

Familie Höß. Aus: Hans Halmbacher: Das Tegernseer Tal in historischen Bildern. 3 Bde. Fuchs-Druck, Hausham 1980-87 (Sammlung Hans Halmbacher)

Oskar Panizza: Das Liebeskonzil

1894 veröffentlichte der Münchner Psychiater und Schriftsteller Oskar Panizza (1853-1921) sein satirisches Theaterstück Das Liebeskonzil. Himmelstragödie in 5 Akten. Es löste einen Skandal aus. In einem aufsehenerregenden und folgenschweren Gerichtsprozess in München wurde Panizza 1895 wegen Blasphemie verurteilt. Zuerst landete er für ein Jahr im Zuchthaus, dann wurde er aus der Stadt ausgewiesen.

Panizzas Liebeskonzil mit dem auf den ersten Blick recht harmlos klingenden Titel war nämlich ein massiver Angriff, eine Attacke, die sich gegen den wilhelminischen Obrigkeitsstaat und die katholische Kirche richtete und mit jeglichen sexuellen Tabus brach. Nicht nur, dass Panizza Papst Alexander VI. (1431-1503) – römisch-katholischer Papst von 1492 bis 1503 und eine der politisch einflussreichsten Persönlichkeiten Italiens in der Renaissance – als Antichrist präsentierte. Panizza führte in seinem Theaterstück auch vor, wie die Vertreter der katholischen Kirche sich in Sünden suhlten. Das Auftreten der Syphilis am Ende des 15. Jahrhunderts erklärte er als göttliches Auftragswerk und als Strafe des Teufels für die Verbrechen, die die katholische Kirche begangen hatte.

Titelbild der 1897 bei Jakob Schabelitz in Zürich verlegten dritten Ausgabe des Liebeskonzils. Künstler: Max Hagen.

Was heute kaum jemand weiß: Panizzas weltberühmtes Skandalstück, das aktuell auch international großes Forschungsinteresse auf sich zieht, ist tatsächlich im Tegernseer Tal entstanden. Geschrieben hat Panizza es in Rottach-Egern, im früheren Gasthof Zur Überfahrt, wo er, wie viele andere Schriftsteller und Künstler, in den Sommermonaten logierte, nicht nur die Sommerfrische genoss, sondern sich auch vom Tegernseer Tal, seiner Geschichte, Kunst und Kultur, beeindrucken ließ. Möglich, dass der permanente Ausblick, den er vom Hotel Überfahrt aus auf das gegenüberliegende frühere Benediktinerkloster Tegernsee hatte, ihn zu seinem gegen die katholische Kirche gerichteten Werk mit inspirierte.

Dass Panizza das berüchtigte Liebeskonzil im Tegernseer Tal geschrieben hat, wissen wir durch den Schriftsteller Max Halbe (1865-1944). Er, der 1893 mit seinem in Berlin aufgeführten Theaterstück Jugend über Nacht im Kaiserreich berühmt geworden war und damals überlegte, ob er von Berlin nach München übersiedeln sollte, verbrachte im Frühjahr 1893 zunächst einige Wochen in Rottach in einem Fischerhaus am Tegernsee „an der Stelle, wo sich zwischen Rottach, Egern und der ‚Parapluie‘ genannten Landspitze eine schmale Zunge in das südöstlich sich öffnende Bergtal erstreckt“, wie er in seinen Lebenserinnerungen schildert.

In ihnen erzählt er auch, dass er in Rottach nicht nur an seinem Roman Der Amerikafahrer schrieb, sondern sich auch mit Panizza traf, mit dem er schon länger in engerem Austausch stand:

Dort weilte zur Zeit gerade Oskar Panizza, mit dem mich schon seit dem vorigen Jahr eine enge Beziehung verband, so fern sich unser beider Charakter auch standen – oder vielleicht gerade darum. Auch wollte ich meinen Knittelreim Schwank Der Amerikafahrer, an dem ich während der letzten Monate vor der Jugendpremiere gebastelt hatte, in dem damals noch sehr stillen und ländlichen Rottach endlich zum gedeihlichen Abschluss bringen. [...] Es war Ende Mai oder Anfang Juni.

Max Halbe berichtet auch, dass Panizza bereits seit vielen Jahren während des Sommers stets im Gasthof Zur Überfahrt wohnte:

Oskar Panizza wohnte im Gasthaus zur Überfahrt in Egern. Das war schon seit einigen Jahren sein sommerliches Hauptquartier. Es war erst zehn Monate her, seit ich hier, im September 1892, zum letztenmal mit ihm zusammengesessen hatte, im Begriff, eine vierzehntägige Fußwanderung nach dem Gardasee anzutreten. Damals war meine Jugend noch unaufgeführt, die Aussicht auf literarischen Ruhm und Erfolg noch in weiter Entfernung gewesen. Fast über Nacht hatte sich das geändert.

Halbe beschreibt Panizzas Herkunft und Charakter und erzählt auch von seinem Hass gegen die katholische Kirche, die Panizza als den Antichrist ansah:

Oskar Panizza stammte aus einer vermögenden Kissinger Hotelierfamilie [...] Panizza war Mediziner, war Irrenarzt mit Lust und Liebe nicht nur im Nebenberuf [...]. In diesem fränkischen Gastwirtssohn und Abkömmling eines alten aus Frankreich oder Italien vertriebenen hugenottischen Geschlechts rumorte etwas vom Tier der Apokalypse, vom Antichrist, den er auch im persönlichen Verkehr oft im Munde zu führen pflegte, aber bezeichnenderweise nicht mit sich selbst, sondern immer nur mit anderen, mit den Gegnern: vor allem mit den Päpsten und der katholischen Kirche.

Manuskript des Liebeskonzils (1893)

Des Weiteren schildert Max Halbe noch, wie Panizza während dieser Zeit, als er sich im Frühsommer 1893 in Rottach aufhielt, sein Liebeskonzil verfasste und wie er und Panizza im Angesicht der Klostertürme von Tegernsee über Panizzas Werk, seinen Hass gegen die katholische Kirche und ihre Päpste heiße Diskussionen im Bräustüberl führten:

In den andern, den stärkeren, den Sieges und selbstgewissen Stunden besaß ihn sein Dämon ganz, hetzte ihn zu dem großen, dem unerhörten Werk, mit dem er alle anderen bezwingen wollte. Eben um diese Zeit und auf eben diesem Tegernseer Boden entstand sein Liebeskonzil, das ihm zwei Jahre später eine Gefängnisstrafe eintragen und der Anfang von seinem Ende werden sollte [...] Wir haben über dieses Thema oft miteinander gestritten, damals im Bannkreis der Tegernseer Klostertürme, im Schatten des Bräustüberls, und nachmals noch oft in München. Denn so wie Panizza auf seinem Standpunkt eines fanatischen Hugenottentums beharrte, ebenso vertrat ich ihm gegenüber einen mir durch Blut und Erziehung überkommenen, wenn auch im Glauben vielleicht nicht sehr taktfesten Katholizismus. Papstgeschichte war ja schon seit langem mein Sondergebiet [...]. Ich hatte aus diesem Gefühl heraus schon früh sogar ein Verständnis für solche vor dem Richterstuhl der Geschichte abgeurteilten Erscheinungen gehabt, wie Rodrigo Borgia – Papst Alexander VI – es war. Und hier stieß ich nun aufs heftigste mit Panizza zusammen. Denn eben diesen Alexander VI. hatte er sich als „Helden“ seines neuen dramatischen Liebeskonzils erwählt, nicht etwa um einen dramatischen Helden im üblichen Sinne daraus zu machen, sondern weil er in ihm die Verkörperung seiner schrecklichen Albdruckträume: weil er den leibhaftigen Antichrist in ihm erblickte.

Schon in jenen Rottach Frühlingstagen des Jahres 1893 gewann ich den Eindruck, daß Panizza entschlossen war, für die Verwirklichung seiner ehrgeizigen dichterischen Träume jeden menschlichen Preis zu zahlen – sei es auch den der Märtyrerkrone. [...] Zwei Jahre später, an einem schwermütig düsteren Frühlingstage, sollte Panizza im Münchner Justizpalast die Antwort auf diese Frage erhalten, sollte die Probe auf sein Lebensexempel gemacht werden.

 


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Verfasst von: TELITO / Dr. Ingvild Richardsen