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Foto: Ingvild Richardsen (TELITO)

Schloss Tegernsee: Ruodlieb und Tegernseer Liebesgruß

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Idealplan des Klosters Tegernsee um 1700, der jedoch nie vollständig umgesetzt wurde.

Hier im Klosterbereich sollen zwei der drei bedeutenden literarischen Dichtungen vorgestellt werden, die im Mittelalter entstanden sind: der Ruodlieb und der Tegernseer Liebesgruß. Dem Drama Ludus de Antichristo ist ein eigener Spaziergang gewidmet.

1. Der Ruodlieb

Mit dem Ritteroman Ruodlieb ist uns aus dem Mittelalter ein einmaliges Kompendium weltlichen Lebens überliefert. Höchstwahrscheinlich hängt diese außergewöhnliche literarische Schöpfung eines anonymen Autors mit der künstlerischen Blütezeit des Klosters Tegernsee im 11. Jahrhundert zusammen, in dem auch die Baukunst des Klosters, seine Erzguss-, Glas- und Buchmalerei höchstes Ansehen besaß. Vom Ruodlieb sind 2.305 zum Teil verstümmelte Verse auf insgesamt 38 Pergamentblättern erhalten. Sie befinden sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Dass dieser Roman in Tegernsee entstanden ist, ist aufgrund von Besitzvermerken aus dem 15. Jahrhundert und handschriftlichen Forschungen sicher. Der in einem antiklassischen Latein verfasste Text ist durchsetzt mit griechischen und deutschen Wörtern. Auch der Name des Helden Ruodlieb ist deutsch.

Im Ruodlieb wird die Zusammenkunft zweier Könige geschildert. Einer ist dabei bedeutungsvoller als der andere. Dahinter wird heute die historische Zusammenkunft Kaiser Heinrichs II. mit Robert von Frankreich im Jahre 1023 vermutet. Dementsprechend wird der Roman auch als Schlüsselroman verstanden, der vom Aufstieg eines nichtadeligen lehenlosen Ritters in den Reichsdienst erzählt – und auch als Haus- und sippengebundene Literatur für mittelalterliche Adelsgeschlechter diente.

Spiegel gesellschaftlichen Lebens

Ohne die Informationen, die uns der Ruodlieb bietet, wäre unsere Kenntnis des täglichen Lebens und des höfischen und diplomatischen Verhaltens im Mittelalter äußerst bescheiden. Insgesamt wird im Ruodlieb das Bild einer harmonischen Gesellschaft gezeichnet. Ein Großteil der Erzählung spielt im bäuerlichen Bereich. Auffallend ist der Reichtum der Bauern. Man erfährt, dass der weltliche Adel aus Herzögen, Grafen und adligen Rittern besteht. An der Spitze des Staates steht der König, dem Ratgeber und Getreue zur Seite stehen. Von den Hofämtern werden Kämmerer, Truchsess und Mundschenk genannt. Der Klerus besteht aus Bischöfen, Kaplänen, in ihrem Dienst stehenden weltlichen Geistlichen und aus den Äbten und ihren Mitbrüdern.

Der Ritter

Zu den Fähigkeiten eines gut erzogenen und ausgebildeten Ritters zählen Jagd- und Fischfang, Schachspiel, Saitenspiel, Tanz und Waffenhandwerk. Lesen und Schreiben werden nicht erwähnt. Als junger Mann trägt der Ritter keinen Bart. Im reiferen Alter jedoch gehört ein Kinnbart auf weißer Haut und rosigen Wangen zum Schönheitsideal. Man erfährt, dass Ruodliebs Rüstung aus Brünne, Tunika, Stahlhelm und Schwert besteht. Sein Knappe trägt seinen Schild, die Stoßlanze und den Köcher. Der kostbarste Besitz des Ritters sind sein Pferd und Hund, dann ein Horn aus Greifenklaue, ein Lederbecher und ein purpurnes Kissen.

Essgewohnheiten

Auch über die Tischsitten und Essgebräuche beim Adel und beim Großbauern erfährt man viel: Täglich gibt es zwei Mahlzeiten, die am Vormittag und am Abend eingenommen werden. Nach und bisweilen auch vor dem Essen wäscht man sich die Hände. Gegessen wird an kleinen Tischen, meist zu zweit. Am Ende des Mahles werden die Tische „aufgehoben“ und weggetragen. Beim Adel gibt es mehrere Gänge, nach jedem wird ein Becher mit einem Getränk geleert. Beim Großbauern fehlen die Tischtücher. Bei ihnen gibt es auch nicht mehrere Gänge, aber immerhin Fleisch und auch Wein. Gegessen wird mit Messer und Löffel: Die Gabel wird in Deutschland erst Ende des 17. Jahrhunderts entwickelt. Im Ruodlieb findet man sogar eine Art Speisezettel der bäuerlichen Bevölkerung (V. 39-87).

Männertracht

Die Männertracht besteht aus Hemd, kurzer Tunika, kurzem Schultermantel, langer Hose, Schenkelbinden und Bundschuhen. Seit Anfang des 11. Jahrhunderts machte sich der byzantinische Einfluss geltend, die Kleider wurden länger, die Stoffe kostbarer. Als wertvollstes Kleidungsstück überhaupt gilt der Pelzmantel. Auch über damals übliche Schmuckstücke erfährt man eine Menge.

Herrscherideal und Werte

Im Ruodlieb wird ein Herrscherideal präsentiert, eine moralische und staatspolitische Grundhaltung, die auch als „ritterliche Tugenden“ eines Herrschers bekannt sind. Das Bild des großen Königs ist geprägt von Stärke, Weisheit, Großmut, Güte, Demut, Bescheidenheit und Freigebigkeit. Werte, die auch an Christus als herrscherliche Idealgestalt angelehnt sind. Von größter Bedeutung ist der Wert der Treue, das Treuegelöbnis steht an oberster Stelle. Der aufstrebende junge christliche Ritter im Ruodlieb erscheint als eine Art verkleinertes Abbild des großen Königs, an ihm orientiert er sich. Im Ruodlieb erfährt man auch viel über die damalige Rechtsprechung. Zum Beispiel, dass ein Schöffengericht unter dem Vorsitz eines Schultheißen über Verbrechen, wie Mord und Ehebruch, Urteile fällte oder welches damals gebräuchliche Arten der Hinrichtung und Verstümmelung waren.

Bekannt ist der Ruodlieb ebenfalls für die königlichen Weisheitslehren, die in ihm vermittelt werden. Kurz auf den Punkt gebracht lauten diese so:

Königliche Weisheitslehren

• Trau keinem Rotkopf; denn das sind jähzornige und schlechte Menschen
• Verlasse nie den schmutzigen Dorfweg, um durch die Säten zu reiten, sonst wird man dich schelten und Du wirst dann vom Zorn hingerissen werden
• Kehre nie ein, wo der Mann alt und die Frau jung ist, sondern dort, wo umgekehrt der Mann jung und die Frau alt ist
• Verleihe nie eine trächtige Stute zum Eggen; sonst geht ihr Junges zugrunde
• Besuche nie einen Dir noch so lieben Freund zu oft; denn das Seltene pflegt man höher zu schätzen als das Alltägliche
• Nehme nie eine noch so schöne eigene Magd zur Frau, weil sie sonst sofort übermütig wird
• Suche dir die Frau nur da, wo die Mutter es rät. Wenn du sie hast, behandle sie gut, bleibe aber ihr Meister. Offenbare ihr auch nie deine geheimen Absichten, damit sie nicht, wenn sie von dir gescholten wird, unangemessenen Gebrauch davon macht
• Beherrsche den Zorn und schiebe die Rache über Nacht auf
• Lasse dich nie in einen Streit mit deinem Herrn ein. Schenke ihm das, was er von dir leihen will. Dann wirst du wenigstens Dank von ihm gewinnen, während im andern Falle beides verloren geht, das Ding und der Dank
• Wo du eine Kirche siehst, empfiehl dich den Heiligen. Wo geläutet wird oder gesungen, eile hin und verrichte deine Andacht; das verlängert nicht die Reise sondern verkürzt sie
• Wenn dich jemand auffordert, um Christus willen die Fasten zu brechen, so weigere dich nicht; dadurch brichst du nicht sein Gebot sondern erfüllst es
• Hast du Ackerland an der Straße, so ziehe keine Graben, um die Leute von den Säte fernzuhalten, sonst umgehen sie die Graben und du hast den doppelten Schaden

Im Ruodlieb erfährt man kuriose Dinge aus der Kräuter- und Steinkunde im Mittelalter. Zum Beispiel wie man mit dem Buglossenkraut Fische fängt oder mit dem Luchsstein Edelsteine herstellt:

Das Buglossenkraut – Fische fangen mit dem Buglossenkraut

Dem Ruodlieb zufolge hat das Buglossenkraut (Ochsenkraut) pulverisiert drei Eigenschaften: Wirft man es in ein alkoholisches Getränk, so kann man, soviel man auch davon trinkt, nicht betrunken werden. Fressen Wölfe oder andere Tiere davon, so erblinden sie. Fressen Fische davon, so können sie nicht wieder ins Wasser abtauchen, sondern müssen sich an der Oberfläche des Wassers aufhalten. Dieses Wissen kann man sich für den Fischfang wie folgt zunutze machen:

Man fertigt aus dem Kraut Pillen an und wirft sie in den See, wonach die Fische sofort schnappen. Von einem Boot aus kann man die an der Wasseroberfläche schwimmenden Fische nun mit einer Gerte ans Ufer treiben, wo sie leicht gefangen werden können. Woher hat der Dichter diese naturwissenschaftlichen Fabelkenntnisse? Sie stammen aus Plinius (Hist. nat. 25, 40) und aus dem im Mittelalter vielgelesenen und vielfach umgearbeiteten sog. Pseudo-Plinius.

Der Luchsstein (Ligurius= Bernstein) – Edelsteinherstellung mit dem Luchs

Im Mittelalter galt der Luchs als sehr wertvoll, weil man aus seinem Harn angeblich einen kostbaren Edelstein gewinnen kann: den sog. Ligurius (Bernstein). Der Sage nach geht das so: Man nimmt den Luchs und bindet ihn mit den Pfoten an vier in den Boden eingeschlagenen Nägeln fest. Durch Halsfesseln macht man es ihm unmöglich, die Stricke zu zerbeißen. Danach gibt man ihm süßen starken Wein zu trinken. Ist der Luchs betrunken, so lässt er wider Wissen und Willen den Harn, der durch ein Loch im Boden in eine darunter gestellte Schüssel fließt. Stirbt der Luchs ohne zuvor den Harn gelassen zu haben, so nimmt man ihm die Blase heraus, sticht diese mit der Nadel an und drückt den Urin in die Schüssel. Diesen gießt man tropfenweise in viele kleine kupferne Gefäße, gräbt diese ein und lässt sie 15 Tage unter der Erde. Nach Ablauf dieser Frist sind die Tropfen zu ebensovielen Edelsteinen kristallisiert.

2. Der Tegernseer Liebesgruß

Als Tegernseer Liebesgruß bezeichnet man das älteste bis heute bekannte Liebesgedicht in deutscher Sprache. Es handelt sich dabei nicht um einen Originaltitel, sondern um eine nachträgliche Bezeichnung. Das Gedicht selbst ist auf mittelhochdeutsch verfasst. Es entstand wohl zwischen 1160 und 1186 und umfasst nur fünf Verse.

Mittelhochdeutsch:

Du pist min ih bin din
des solt du gewis sin
du bist beslossen in minem herzen
verlorn ist das sluzzelin
du most och immer darinne sin.

Neuhochdeutsche Übersetzung:

Du bist mein, ich bin Dein
Dessen sollst gewiss sein.
Du bist eingeschlossen in meinem Herzen.
Verloren ist das Schlüsselchen
Du musst auf immer darin sein.

Karl Lachmann und Moritz Haupt nahmen den Tegernseer Liebesgruß in die 1857 von ihnen herausgegebene Anthologie Des Minnesangs Frühling auf. Der Name leitet sich von dem mittelhochdeutschen Terminus minne ab, der als ‚liebevolles Andenken‘, ‚Liebe‘ oder auch ‚Zuneigung‘ übersetzt wird. Diese zielte zumeist auf die Verehrung einer hochgestellten Dame.

Die Handschrift Clm 194111

Den Tegernseer Liebesgruß findet man in der Gebrauchshandschrift Clm 19411, die im Kloster Tegernsee in Kollektivarbeit von 12 Schreibern angefertigt wurde. Mit der Aufhebung des Klosters Tegernsee im Jahre 1803 gelangte die Handschrift an die Münchener Hofbibliothek, die Vorgängerin der heutigen Bayerischen Staatsbibliothek.

Die mittelhochdeutschen Verse des Tegernseer Liebesgrußes sind eingebettet in einer auf Latein verfassten Korrespondenz zwischen einem Magister und seiner Freundin. Diese Korrespondenz besteht aus elf lateinischen Freundschafts- bzw. Liebesbriefen und einem Konvolut von insgesamt 306 Musterbriefen. Ob es sich dabei um Abschriften echter Korrespondenz oder um fingierte Briefe handelt, ist bis heute nicht bekannt.

Erwähnt sei, dass sich im Codex Clm 194111 auch das Theaterstück Ludus de Antichristo findet. Bei diesem Drama handelt es sich um ein geistliches Spiel, dass nur in dieser Handschrift überliefert wurde. Es umfasst 414 Verse, die vom Kampf zwischen dem christlichen Endkaiser, der die Herrschaft über die Welt gewinnt, und dem Antichrist handelt.

Vom Kloster begibt man sich jetzt in die Bahnhofsstraße und läuft Richtung Bahnhof die Straße solange hoch, bis man rechter Hand auf die Waldschmidtstraße stößt.

 


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Verfasst von: TELITO / Dr. Ingvild Richardsen