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Thomas Mann, 30.4.1900 (ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Atelier Elvira / TMA_0016)

Schwabing, Seestraße 20

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Abb. 17: Wolfgang Born: Schlussvignette zur "Tod in Venedig"-Mappe, 1921.

Das fünfte und letzte Kapitel der Novelle endet mit dem Tod des Gustav von Aschenbach im Strandkorb vor dem Grand Hotel des Bains. Spätestens hier zeigt sich, wem Aschenbach in der Figur des Tadzio tatsächlich so lange hinterher gelaufen und hinterher gestiegen ist. Es ist der Götterbote Hermes, der Seelenführer in die Unterwelt. Darauf weist eine Illustration aus der Bildermappe zum Tod in Venedig des Münchner Künstlers Wolfgang Born (1893-1949) aus dem Jahr 1921. [Abb. 17] Die Schlussvignette zeigt einen Hermes (oder Merkur), der seit der Renaissance in vielen Varianten zum Bildungsgut des gehobenen Bürgertums gehörte. Die Urform des auf einem Bein ins Schweben übergehenden Hermes mit Flügelhaube und Flügelschuhen stammt von Giambologna (1580) und befindet sich heute ebenfalls im Museo Nazionale del Bargello zu Florenz, wo Thomas Mann ihn gesehen haben kann, aber auch im Louvre. [Abb. 18]

Die Figur war in zahlreichen Kopien und Varianten weit verbreitet. Allein in München lassen sich heute noch vier öffentliche Bronze-Varianten dieses Hermes finden. Der eine schwebt über einem Brunnen im Grottenhof der Residenz, der zweite balanciert vor der Mohren-Apotheke im Tal, der dritte Hermes entschwebt einer Hausfassade an der Seestraße 20 [Abb. 19] in Schwabing, und der vierte findet sich in einem Treppenaufgang zum Café Glockenspiel am Marienplatz.

Die Funktion, die Thomas Mann der Figur des Tadzio beim Sterben des Schriftstellers Gustav von Aschenbach zuweist, ist eindeutig hermes- oder merkurbezogen, wie auch eine Arbeitsnotiz erkennen lässt: „Merkur hatte die Seelen in die Unterwelt hinabzuführen und wurde dann psychagogos und psychopompos genannt.“[35]

Abb. 18: Giambologna, Hermes. Abb. 19: München, Seestraße 20, Hermes. Foto: Dirk Heißerer.

Damit kommt der Fluss der Unterwelt, Acheron oder Styx, in den Blick. Tadzio verwandelt sich im Laufe des vorletzten Absatzes der Erzählung wortwörtlich in einen „Psychagog“,[36] einen Seelenführer. Die Schlussszene der Novelle geht am Lido fast unmerklich in eine Hermes- und Unterweltszene über:

Am Rande der Flut verweilte er sich, gesenkten Hauptes, mit einer Fußspitze Figuren im feuchten Sande zeichnend, und ging dann in die seichte Vorsee die an ihrer tiefsten Stelle noch nicht seine Knie benetzte, durchschritt sie, lässig vordringend, und gelangte zur Sandbank.[37]

Das ist der Weg vom Diesseits (feuchter Sand) durch den Styx (Vorsee) ins Jenseits (Sandbank). Die Struktur wird wiederholt, und dabei verwandelt sich Tadzio auch äußerlich in den Hermes mit dem flatternden Flügelhut:

Vom Festlande geschieden durch breite Wasser, geschieden von den Genossen durch stolze Laune, wandelte er, eine höchst abgesonderte und verbindungslose Erscheinung, mit flatterndem Haar dort draußen im Meere, im Winde, vorm nebelhaft-Grenzenlosen.[38]

Er schaut zurück, und Aschenbach in seinem Strandkorb schaut zu ihm hinüber:

Sein Haupt war an der Lehne des Stuhles langsam der Bewegung des draußen Schreitenden gefolgt; nun hob es sich, gleichsam dem Blicke entgegen, und sank auf die Brust, so daß seine Augen von unten sahen, indes sein Antlitz den schlaffen, innig versunkenen Ausdruck tiefen Schlummers zeigte.[39]

Es folgen die drei wichtigsten Worte der Novelle, sozusagen ihre Poetik:

Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.[40]

Das ist der vorletzte Absatz der Novelle, das mythologisch überhöhte, und auf eine bekannte Kunstfigur beziehbare Sterben des Helden. Der letzte Absatz wechselt dann in den Ton des sachlichen und realistischen Berichterstatters:

Minuten vergingen, bis man dem seitlich im Stuhle Hinabgesunkenen zu Hilfe eilte. Man brachte ihn auf sein Zimmer. Und noch desselben Tages erfuhr eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.[41]

So ‚realistisch‘ wirkt dieses Ende, dass Thomas Mann 1927 tatsächlich die Anfrage eines Lesers erhielt, ob es sich bei der Geschichte um einen konkreten Vorfall in Venedig gehandelt habe. Nein, schrieb er, die Novelle Der Tod in Venedig schließe sich „an keine historische Tatsache an“, sondern sei „durchaus dichterische Fiktion“.[42] Das stimmt genauso wie die bereits angeführte andere, ja gegensätzliche Aussage, im Tod in Venedig sei „nichts erfunden“,[43] da die Sachverhalte aus verschiedenen konkreten Erlebnissen und Erfahrungen kombiniert und zur Novelle komponiert wurden. Immerhin: In München lässt sich am Nordfriedhof und in der Schwabinger Seestraße der Beginn und das Finale von Der Tod in Venedig auf wundersame Weise erleben und verstehen. Das Buch zum Thema soll dabei ein wenig behilflich sein.

 

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[35] GKFA 2.2, S. 473.
[36] GKFA 2.1, S. 592.
[37] Ebd., S. 591.
[38] Ebd., S. 591f.
[39] Ebd., S. 592.
[40] Ebd.
[41] Ebd.
[42] Thomas Mann: Postkarte an einen unbekannten Herrn in Troppau (Schlesien, heute Opava, Tschechien). München, 4.11.1927. Angebot mit Textbeschreibung des Antiquariats Herbst-Auktionen (Detmold) bei www.zvab.com vom 4.12.2019.
[43] Thomas Mann: Lebensabriß (1930). In: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M. 1974, Bd. XI, S. 98-144, hier S. 124.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer