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Thomas Mann, 30.4.1900 (ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Atelier Elvira / TMA_0016)

Nordfriedhof

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Abb. 13: Nordfriedhof: Aussegnungshalle nach Westen, 2012.

Als Gustav von Aschenbach nach seinem etwa zweistündigen Spaziergang durch den Englischen Garten, vom Aumeister her zum Nordfriedhof kommt und an der Haltestelle die Trambahn erwartet, „die ihn in gerader Linie zur Stadt zurückbringen“[30] soll, fällt ihm etwas auf. Das Zentrum des zur Straße hin gelagerten Gebäudes ist die Aussegnungshalle mit dem Portikus. Von der gegenüber liegenden Trambahnhaltestelle aus blickt Aschenbach hinüber:

[...] das byzantinische Bauwerk der Aussegnungshalle [...] lag schweigend im Abglanz des scheidenden Tages. Ihre Stirnseite, mit griechischen Kreuzen und hieratischen Schildereien in lichten Farben geschmückt, weist überdies symmetrisch angeordnete Inschriften in Goldlettern auf, ausgewählte, das jenseitige Leben betreffende Schriftworte, wie etwa: ‚Sie gehen ein in die Wohnung Gottes‘ oder ‚Das ewige Licht leuchte ihnen‘.[31]

Das nach Plänen des Stadtbaumeisters Hans Grässel zwischen 1896 und 1899 erbaute Friedhofsgebäude zierte ein umfangreiches Figuren-, Bild und Textprogramm, ausgerichtet auf den Trost und die Erlösung durch das Lamm Gottes. Ein Vergleich der einstigen Situation an der „Stirnseite“ der Aussegnungshalle durch historische Fotografien mit der heutigen Situation [Abb. 13 und 14] zeigt, dass die in der Novelle erwähnten Verzierungen und Inschriften an der Stirnseite und den beiden Seitenteilen verschwunden sind; sie wurden Ende der 1950er-Jahre entfernt. Thomas Mann zitiert also eine Situation, die man nur versteht, wenn man sie anhand alter Fotos und der im Nachlass Grässel (Stadtarchiv München) enthaltenen Pläne, Aufzeichnungen und Artikel rekonstruieren kann.[32]

 

Abb. 14: Nordfriedhof: Aussegnungshalle nach Osten, um 1900. (Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv)

Doch nicht nur die Inschriften sind verschwunden. Im Text heißt es weiter:

[...] der Wartende hatte während einiger Minuten eine ernste Zerstreuung darin gefunden, die Formeln abzulesen und sein geistiges Auge in ihrer durchscheinenden Mystik sich verlieren zu lassen, als er, aus seinen Träumereien zurückkehrend, im Portikus, oberhalb der beiden apokalyptischen Tiere, welche die Freitreppe bewachen, einen Mann bemerkte, dessen nicht ganz gewöhnliche Erscheinung seinen Gedanken eine völlig andere Richtung gab.[33]

Auch diese beiden „apokalyptischen Tiere“ links und rechts der „Freitreppe“ gibt es heute nicht mehr. Dass sie aber einst genau dort lagen, wo Thomas Mann sie verortet, zeigen wiederum historische Aufnahmen. [Abb. 15] Die beiden Wesen, Sphingen mit Hahnenköpfen, waren Grabwächter mit Schrifttafeln, auf denen „Sehet zu“ und „Wachet und betet“ (nach Markus 13, 33) zu lesen war. Ihre Aufgabe war, das im Portikus noch heute sichtbare „Lamm Gottes“ zu bewachen und den Toten sowie den Trauernden den Übergang ins Jenseits zu erleichtern. Thomas Manns Bezeichnung der „apokalyptischen Tiere“, die auf das schaurige, aus dem Meer kommende Tier in der Offenbarung des Johannes verweisen (Offenbarung 13,1), verkehrt Grässels Ansatz geradezu in sein Gegenteil, allerdings nur, um damit die Untergangsszenerie der Novelle zu verstärken.

Abb. 15: Sphingen um 1910. © Foto Marburg Nr. 121.107

Nachdem die Sphingen den Krieg unversehrt überstanden hatten, wurden sie Anfang der 1960er-Jahre auf Anweisung eines städtischen Baurats entfernt; dessen Kommentar soll damals gelautet haben: „Diese Scheißviecher müssen weg.“[34] Ein junger Steinmetz aus Niederbayern hat sie angeblich erworben und abtransportiert, der Verbleib ist unbekannt.

Doch seit dem Sommer 2019 steht die erste rekonstruierte Sphinx wieder an ihrem Platz. [Abb. 16] Im Auftrag der Steinmetz- und Steinbildhauer-Innung München und Oberbayern wurde diese Sphinx von den Bildhauer- und Steinmetzmeistern Wolfgang Gottschalk, Barbara Oppenrieder und Olaf Klein sowie von Meisterschüler(inne)n der Berufsschule für das Bau- und Kunsthandwerk an der Luisenstraße 29 rekonstruiert und der Stadt geschenkt. Die zweite Sphinx folgte im Auftrag der Stadt München Ende Juli 2020.

Eine Dokumentation zum Rätsel der Sphingen vom Nordfriedhof erschien Anfang 2021.

Abb. 16: Sphingen, Sommer 2020.

 


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[30] Ebd., S. 502.
[31] Ebd.
[32] Vgl. Dirk Heißerer (Hrsg.): Das Rätsel der Sphingen vom Nordfriedhof. Bewahrung bei Thomas Mann, Verlust und Rekonstruktion“. Würzburg 2021 (Thomas-Mann-Schriftenreihe, Fundstücke, Bd. 8).
[33] GKFA 2.1, S. 502.
[34] Mitteilung von Erich Scheibmayr in einem Schreiben von Dr. Stahleder (Stadtarchiv München) an Ewart Reder, Offenbach, aus München vom 14.8.1997 (Kopie im Privatbesitz des Verfassers).

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer