Fragment Fürth Westerwald / Düsseldorf Fürth: 1983-1996

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Anfang 1983 kam der große Wendepunkt in meinem Leben: Ende meiner Arbeit für Rosenthal, Trennung von Frau und Kind, Schulden und Pleite.

Sicher war es die Überlastung, sicher war es der Stress in Familie und Beruf, sicher war es meine Schuld: Alkohol und Drogen dominierten den Tag – morgens Aufputschmittel zum Wachwerden, abends Schnaps zum Einschlafen. Diagnose: Polytoxikomanie, multipler Substanzengebrauch – oder einfach  Mehrfachabhängigkeit. Der Beginn einer chaotischen Zeit mit Auf und Ab und nur noch Ab. Ich verließ Selb und kehrte in meine Heimatstadt Fürth zurück.

Zwar nahm ich immer wieder Anläufe, in geordnete Bahnen zu kommen, schrieb dies und das, zeichnete eine Zeit lang aufmüpfige Pinguine und CAToons für eine Zeitschrift, die auch gedruckt und ausgestellt wurden. Als kurzer Höhepunkt glänzte meine Einzelausstellung mit mythisch-mystischen Tuschebildern unter dem Titel Mandalas & Metaphern in der Galerie an der Freiheit in Fürth. Allerdings musste die Vernissage ohne mich stattfinden, weil ich just am Morgen dieses für mich so wichtigen Tages kollabierte und mit extremen Entzugserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Es begann das kräftezehrende Wechselspiel von Entgiftungen und Rückfällen. Im April 1987 trat ich eine Langzeittherapie im Westerwald an. Ende dieses ersten Therapie-Monats ereignete sich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, doch wir „Süchtler“, wie man uns nannte, erfuhren nichts davon. Es herrschte Kontaktsperre, Radio, Fernsehen, Telefon und Korrespondenz waren strengstens verboten. Das therapeutische Personal war der Meinung, solch ein Ereignis wäre zu belastend für die Patienten und so machten wir weiterhin unseren täglichen Waldspaziergang als gäbe es keine radioaktiven Wolken.

Das halbe Jahr Therapie erwies sich für mich als schreibintensive Zeit. Viele dunkle Gedichte entstanden, aber auch Hoffnungssplitter. Veröffentlicht wurden diese noch im gleichen Jahr unter dem Titel Auf der anderen Seite der Nacht. Jürgen Ploog schrieb über dieses Buch: „Hart und ehrlich wie guter alter Rock’n Roll.“

Hoffnungsflimmern

Eines Morgens wachst du auf
und merkst, dass du lebst.
Das ist ein so irrsinniges Gefühl,
dass du es zuerst gar nicht glauben kannst.

Ich war der Meinung, nur mit einem totalen Neustart eine Chance zu haben. Aber ich hatte nichts dazu gelernt, schlug alle Warnungen in den Wind und zog Ende 1987 zu einer Mitpatientin aus der Westerwald-Therapie nach Düsseldorf. Rückblickend war das einzig Positive dieser Zeit, dass ich dort Eugen Gomringer wiedertraf. Er war zu dieser Zeit Professor für Neue Ästhetik an der dortigen Kunstakademie. Er besuchte mich und bat mich, Lyrik zu Arbeiten von Erich Reusch für dessen Ausstellung im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl zu schreiben. Ich fühlte mich wie in alten, besseren Zeiten und ließ mich mit Haut und Haar auf die poetische Auseinandersetzung ein. Die von mir WortRäume genannten zwölf Sequenzen las ich bei der Vernissage und sie wurden vom Künstler und dem Publikum überaus positiv aufgenommen. Der Direktor Dr. Uwe Rüth veröffentlichte sie anschließend mit einem Vorwort versehen in den Museumspublikationen.

Vorsichtige Annäherung

Wohin soll das führen
wenn mich ein anderer führt
wenn ich meine Vorstellungen aufgebe
um den seinen zu folgen?

Wohin soll das führen
Vertrautes anders zu sehen
fremden Gedanken nachzuspüren
um mich einfach einzulassen?

Vielleicht
finde ich dabei
einen Weg
von dem ich niemals träumte.

Doch meine verheißungsvolle Düsseldorfer Zukunft endete bereits 1988 mit einem Fiasko: Massive Rückfälle, weitere Entgiftungen und letztendlich Einweisung in die Psychiatrie. Nachdem ich wieder klar denken konnte, rief ich meine Eltern an und mein Vater holte mich aus der Klinik ab und ich nahm in Fürth einen neuen Anlauf, mein Leben in den Griff zu bekommen.

Nach einigen Wochen der Erholung suchte ich einen Job und wurde fündig: Beim alternativen freien Volkstheater Fürth als Mädchen für alles: Bühnenbild, Bühnenbau, Licht- und Tontechnik, Grafik. Besonders in Erinnerung ist mir das Bühnenbild für Heartbreak Hotel nach einem Monolog von Jean Cocteau. Der Autor, Regisseur und Hauptdarsteller Oliver Karbus wünschte sich viele mit Blut bemalte Stoffbahnen als Gestaltung der Bühne. Viele Stoffbahnen, das bedeutete viel Blut aber woher nehmen?

Das woher konnte ich schnell klären. Der Fürther Schlachthof, dessen Gebäude heute das Kulturforum beherbergen, erklärte sich bereit, mir die gewünschte Menge von hundert Litern unentgeltlich für die Kultur zur Verfügung zu stellen. Ich müsse sie nur abholen. Damit tauchten zwei neue Problem auf: Wo konnte ich die über zwei Meter langen Stoffbahnen bemalen und wie kriege ich das Blut dorthin? Die Lösung war ungewöhnlich, aber ziemlich einfach: In offenen Eimern in das nahegelegene ehemalige Flussbad. Ich nagelte die Bahnen in den alten hölzernen Schattenspendern an die Wände und bemalte sie. Da es sich um ein gesperrtes Gelände handelte, konnte ich das Blut ungestört verarbeiten. So schleppte ich nach und nach die vollen Eimer in die offenen Holzverschläge, bemalte die Stoffbahnen mit wilden Blutmustern und konnte nach getaner Arbeit gleich ein Bad in der Rednitz nehmen.

Ausgerechnet am Tag der Maueröffnung kam es zur Versöhnung mit Friederike Gollwitzer, die ich nach der Therapie verlassen hatte. Nachdem ich das Ziel „suchtfreie bzw. trockene Zufriedenheit“ als inhaltlose Floskel empfand, half sie mir Ziele zu definieren. Der Neubeginn war unsere gemeinsame Installation Magischer Garten in Friederikes Grundstück in Fürth. Dieser führte uns zu überregionalen Aktivitäten, bei denen unser Erdwächter-Projekt beim Gaia-Symposium 1992 auf einer ehemaligen Kohlenzeche in Gelsenkirchen ein Höhepunkt war. Unsere Installationen bestanden hauptsächlich aus archaischen Elementen, die ich stets mit Poesie verband. Die meist pfahlförmigen Objekte sahen wir als Mahn- und Alarmzeichen, aber auch als Akupunktur der verletzten Erde. Das Zentrum unserer Arbeit und ihrer Präsentation war unsere Galerie „Kulturgut Raum für Kunst“. Von hier aus organisierten wir u.a. die Fürther Kunst-Begegnungen.

 

Ausstellung „Kunst und Buch“, rechts Objekt Biographie von Friederike Gollwitzer

Ein Highlight stellte die Ausstellung „Kunst und Buch“ dar, u.a. mit Timm Ulrichs, Botond, Gereon Inger und Stefanie Schneider. Das Konzept war, keine Bücher über Kunst auszustellen, sondern das Buch bzw. Bücher selbst als Kunstwerk zu gestalten.

Im Frühjahr fand im Stadtmuseum Erlangen die Ausstellung „Über Grenzen miteinander“ statt, für die ich meine Medienskulptur Run with the Sun konzipierte und durchführte. Dieses Projekt war ein 24-Stunden-Netzwerk-Fax-Projekt, das dem erweiterten Kunstbegriff entsprach und ein mediales Ereignis mit Poesie verknüpfte. Meine Projektbeschreibung: „Der Traum des Jules Verne: In 80 Tagen um die Welt. Der Traum des Gerd Scherm: Eine Botschaft in 24 Stunden rund um den Globus zurück zum Absender. Von Sonnenaufgang bis Sonnenaufgang. Über verschiedene Relaisstationen, die das Telefax immer zu Sonnenaufgang weiter übermitteln Richtung Westen. Bis es zum nächsten Sonnenaufgang zu mir zurückkehrt. Mit den Spuren aller, bei denen meine Botschaft auf ihrem Weg rund um die Welt Zwischenstation gemacht hat.“

Während des „Aufbaus“ meiner Medienskulptur Run with the Sun erreichte mich die Nachricht vom Tod Ray Johnsons, einem Vater der Mail Art, und die Bitte, in das Netzwerk „Pray for Ray“ einzusteigen. Ich verknüpfte im Lauf der Nacht beide Aktionen und sie verschmolzen zu einem weltweiten Event.

 

Der Philosoph und Autor Dr. Reinhard Knodt schrieb über meine Medienskulptur: „Über Grenzen – miteinander: Zu einem Motto und seiner Bearbeitung Ein Streifen Faxpapier läuft durch 24 Stationen entlang der Sonnenaufgangslinie über den Erdball und sammelt dabei die Lichtspuren der Übertragungsvorgänge. Einen anspielungsreicheren Hinweis auf das Verhältnis von Ästhetik und Technik – und damit auf die Situation künstlerischen Arbeitens in einer technologischen Gesellschaft – kann es wohl kaum geben.“

Im gleichen Jahr veröffentlichte die Freipresse Bludenz in einer 99er-Auflage ein Büchlein mit Stempelzeichen und Lyrik von mir: Vision Quest. Niemand konnte ahnen, dass diese Edition einige Jahre später Aufnahme in die Sammlung bibliophiler Werke der Bibliothek von Alexandria, Ägypten, finden würde.

Jahre später vertonte der Komponist Werner Heider diese Lyrik unter dem Titel Visionen für Bariton, Streichquartett, Harfe und Sopran-Saxophon. Die Uraufführung fand beim Konzert zum 1000-jährigen Jubiläum Fürths statt.

Die neue Bibliothek von Alexandria, Ägypten

Ende des Jahres 1995 erhielt ich ein Literaturstipendium des Auswärtigen Amtes für Recherchen in Schottland, bei der mich Friederike begleitete. Als erste Station wählten wir Paisley, die Partnerstadt von Fürth. Dort las eine schottische Autorin ins Englische übertragene Lyrik von mir in der Bibliothek. Den anschließenden Aufenthalt auf der herbstlichen Hebriden-Insel Mull nutzten wir auch für ein privates Resümee. Es ist leichter, aus einer geografischen Distanz auf sein Leben blicken, als wenn man mittendrin steckt. Der Alltag ist ein tückischer Schleier, der oft das Wesentliche zugunsten des Pragmatischen herausfiltert. Fern von zuhause machten wir Bilanz und beschlossen, die Galerie aufzugeben, das kleine Häuschen im Laubenweg zu verkaufen und uns etwas auf dem Land zu suchen. Der Traum, Wohnen und Arbeiten an einem Ort zu verbinden sollte in Erfüllung gehen.

Über Monate tauschten die Fotokünstlerin Brigitte Tast und ich Fotos und Gedichte auf dem Postweg aus. Immer wieder reagierten wir auf das Gesehene und Gelesene und näherten uns so den dunklen und lichten Aspekten des Weiblichen. Mit dem Ergebnis dieses dualen Prozesses nahmen wir im Frühjahr 1996 mit der Ausstellung „Astarte und Venus“ Abschied von unserer Galerie und von Fürth. Es war ein Projekt, das der Philosoph Reinhard Knodt in seinem Vorwort  im Ausstellungskatalog als „ästhetische Korrespondenzen“ bezeichnete, dessen Kern Wahrnehmung und Akzeptanz sowie das gegenseitige Fordern und Fördern sind. Hier führten Gedichte zu Fotos und Fotos inspirierten zu Gedichten. So fanden Fotografie und Poesie zu einer spannenden kreativen Synthese.

 


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Verfasst von: Gerd Scherm

Externe Links:

Fürther Kunst-Begegnungen