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Die Kathi

... mit einer Mordtat tilgt sie die Rüben-Schmach und lernt obendrein ein neues Wort.

Genau konnte sich die Nageleisen Katharina nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal von ihrem Dorf am See in die Landeshauptstadt gefahren war. Es musste aber schon Jahrzehnte her sein: Was will eine ehrliche Frau, die unter Naturmenschen, Saiblingen und Gemsen wohnt, auch in einer von Hunden verkoteten Stadt voller aneinandergepappter Häuser? Zudem, das hatte ihr die Nachbarin erzählt, war München neuerdings bevölkert von Menschen, die Selbstgespräche führten.

»Früher hat man«, hatte die Nachbarin kürzlich nach einem Besuch der Kaufingerstraße festgestellt, »im Ohr Ringe getragen, keine Stöpsel.« Was für eine Deppenmode das denn sei, hatte sie die Nageleisen Katharina angefahren, welche hierauf mit einem ratlosen Schulterzucken geantwortet hatte. Die verzweigten Gehirnwindungen in den Schädeln von Städtern zu erahnen war nichts, was einer Bäuerin aus den Bergen, die ihr Lebtag mit Kühen zu tun hatte, leicht fiel. Letztlich war das aber auch egal angesichts der Geschehnisse, die aktuell den Lebenshimmel der Nageleisen Katharina verfinsterten.

Die Nageleisen Katharina: Sechsundachtzig Jahre war sie jetzt alt, und sauwütend obendrein. Das, was der Bruder sich beim letzten Telefonat geleistet hatte, hatte den ihr eigenen, elendig langen und beeindruckend stabilen Geduldsfaden endgültig zum Reißen gebracht.

»Katharina«, hatte der Erwin gesagt, »Katharina, du hätt’st doch eh nie einen Mann g’funden.«

Wie konnte ein jemand, dazu noch ein Bruder, so eine Unverschämtheit denken, geschweige denn aussprechen!

Die Wahrheit war, dass die Nageleisen Katharina damals – es war ziemlich genau vor einundsechzig Jahren – den Veit Vitus bereits derart für sich begeistert hatte, dass man über die Hochzeit gesprochen hatte, ganz konkret. Sogar einen Termin hatte man schon ins Auge gefasst. Einen Kuss hatte es freilich noch nicht gegeben – die Katharina wollte ja nicht ledig schwanger werden, und beim Küssen ... man wusste ja nie – aber ein Händehalten, das ja.

Doch dann hatte der Erwin am Stammtisch damit geprahlt, wie er und der Pasternak Fritz, beide fünfzehnjährig seinerzeit, unter der ein Jahr jüngeren Kathi ihrem Rock mit einer gelben Rübe herumgespielt hätten. Die Kathi hat sich gewehrt, sogar geblutet hat’s, aber der Erwin hat sie festgehalten, und der Fritz hat gedroht, dass er sie umbringt. Also hat die Kathi geschwiegen. Bis heute. Ein Leben lang. Und jetzt ruft der Erwin vom Josephinum Krankenhaus an und sagt so was – sie hätt’ doch eh nie einen Mann gefunden!

Die Katharina hätte gerne einen Mann gehabt, auch Kinder. Stattdessen: Rüben-Schmach, ein Leben lang. Am Morgen nach dem Telefonat, die Kathi hat vor lauter Mordsgedanken nicht schlafen können, steht der Entschluss: Sie muss den Erwin töten. Fangschuss. Die Nageleisens sind entfernt verwandt mit dem Jennerwein. Man hat die Jagd im Blut.

Also holt sie den Wildererstutzen vom Vater aus dem Keller und verräumt ihn samt Pulver im dazugehörigen Rucksack. Sie setzt sich in den Zug, steigt am Münchner Hauptbahnhof aus und läuft am Alten Botanischen Garten und diesem Schnösellokal am Lenbachplatz vorbei, die Ottostraße hinter in die Brienner und dann hinein in die noble Ludwigstraße mit dem Café, wo die ganzen feinen Leute sitzen, die anscheinend keine Arbeit haben. Wenig später steht die Kathi an der Empfangstheke von dem Krankenhaus an der Schönfeldstraße.

»Grüß Gott, ich möcht’ zum Nageleisen Erwin«, sagt die Kathi, gar nicht leise, eher so die Lautstärke, mit der sie die Kühe anspricht, wenn sie morgens zum Melken in den Stall kommt.

Die Empfangsdame nickt freundlich, klappert ein wenig auf der Computertastatur, und sagt dann: »Der hat heute ausgecheckt.«

»Wie meinen Sie das?«, will die Kathi wissen. Sie kann nämlich kein Englisch außer Wie häf no Schnaps, das hat ihr ein Negersoldat beigebracht, direkt nach dem Krieg.

Die Empfangsdame: »Herr Nageleisen wurde heute entlassen.«

»Entlassen?!«, entfährt es der Kathi. So entsetzt ist sie über diese Auskunft, dass die ganze Farbe aus ihrem zwar alten, aber gesunden Gesicht weicht. »Aber ich hab’ doch gerade gestern noch mit ihm telefoniert.«

»Nein, hier steht, dass er entlassen wurde«, meint die Dame, dies nicht ohne Eleganz. Auf ihrem Namensschild steht Marina Schiwo.

»Das kann nicht sein«, stammelt die Kathi fassungslos, »jetzt fahr’ ich extra um die halbe Welt, weil ich den Bruder ...« Die Kathi macht eine nachdenkliche Pause und sucht ein anderes Wort als erschießen … Sie findet es: »besuchen will. Von Entlassung hat der überhaupts nix gesagt.«

»Warten Sie«, meint die Empfangsdame, jetzt doch etwas verunsichert, was der städtischen Eleganz keinen Abbruch tut. Sie schaut noch einmal nach. Wieder klappert sie mit den Tasten. Dann: »Oh mein Gott, das tut mir leid.« Die Frau starrt die Kathi an, jetzt nicht mehr elegant, nein gar nicht. »Sind sie wirklich seine Schwester?« Die Kathi nickt und schaut. Die Empangsdame: »Ihr Bruder ist gestern verstorben.«

»Was?!«, schreit da das Mensch vom See. »Verstorben? Der Erwin?« Der Sakra-men-ter, denkt die Kathi: Gestern noch hat er sie beleidigt, heute ist er schon tot. Aber ihre Wut, die lebt. Muss die Empfangsdame jetzt Angst haben? Ja, sie muss. Weil die Kathi jetzt keift: »Rüben-Schmach. Das geht doch nicht. Den wollt’ doch ich umbringen!«

Kurz überlegt sie, die Kathi, dann hat sie es: »Sie! Das büßen mir jetzt Sie!« Und dann macht sie was: Sie zieht die beiden Teile von dem Wildererstutzen, den sie bereits in der Zugtoilette heimlich mit Pulver beladen hat (der Schaffner hat’s nicht gemerkt) aus dem Rucksack, schraubt dieselben zusammen, zielt auf die Empfangsdame – und ... »Peng«. So schnell geht’s. Schon ist sie tot, die blöde Kuh.

Daheim will die Nachbarin wissen, wie’s dem Erwin geht. »Der hat«, sagt die Kathi, zögert, fühlt sich elegant wie Frau Schiwo, und meint dann wie zu einer braven Katz: »ausgecheckt.«


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Verfasst von: © Jörg Steinleitner, 2011