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Fotografie 1956 (BSB/Timpe)

Niederpöcking: Villa K (ehem. DGB-Schule) am Starnberger See

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Foto Villa Zitzmann K (c) Anette Spieldiener

Die ehemalige 1922/23 erbaute Villa des Kunstsammlers Dr. Karl Zitzmann – bis 2011 DGB-Bundesschule, heute kreatives Seminarhaus und Ferienunterkunft für Kinder und Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen und seit 2022 auch für geflüchtete Familien aus der Ukraine – wird in den 1950er Jahren als Tagungshaus von der Gruppe 47 genutzt.

Vom 25. bis 28. Oktober 1956 und ein Jahr später vom 26. bis 29. September 1957 finden die 18. und 19. Tagung der Gruppe 47 am Starnberger See statt. Letztere gilt als Abschluss einer Phase, die für die Autorinnen Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann ebenso wie die Gruppe selbst bei der Tagung 1952 in Niendorf den Durchbruch bringt. Außerdem zieht man 1957 besonders Bilanz nach zehn Jahren Gruppe 47, ist aber auch in Feierlaune und stößt mit einer Sektspende vom Bayerischen Rundfunk auf die nächste Dekade an.

Ingeborg Bachmann liest die Gedichte „Strömung“ und „Liebe: dunkler Erdteil“, worauf eine kontroverse Besprechung folgt. Reinhard Baumgart erinnert sich in seinem Text Ich war dabei —wirklich?, dass „sogar und auch“ Ingeborg Bachmann, zu diesem Zeitpunkt bereits ein Star, wie andere eingeladene Frauen zwar vorlesen, lachen, tanzen mitessen und mittrinken, aber nicht an der Debatte teilnehmen sollten, dies sei der ansonsten männerbündlerischen Versammlung vorbehalten gewesen. In seiner Erinnerung sieht er Ingeborg Bachmann

„in einem weißen Türstock vor dem damals noch jünglingshaften, ja arielschlanken und blonden Joachim Kaiser [stehen], er parlierend und tändelnd mit einer Nagelschere, sie mit verschränkten Armen, freundlich unnahbar. Ariel und Undine, Luftgeist und Wasserwesen.“

Joachim Kaiser schreibt im Almanach der Gruppe 47 (1962) über akustische Missverständnisse bei den Tagungen der Gruppe 47 seitens der Rezipierenden, die bei den sich an die Autorenlesungen anschließenden Debatten allein auf das Gehörte des Vortrags zurückgreifen konnten. Er illustriert jenes Entstehen von Missverständnissen am Beispiel von Ingeborg Bachmanns Gedichtvortrag Liebe: Dunkler Erdteil, bei welchem die Zuhörenden „das Gedicht von den Lippen der flüsternden Autorin saugen mußten“. Den auf die Lesung folgenden Austausch skizziert er knapp und legt dar, dass schon der Titel des Gedichts falsch verstanden worden war, nämlich statt „Liebe: Dunkler Erdteil“ „Lieber dunkler Erdteil“. Kaiser weist auf die Tagungsbesonderheit hin, dass die Texte der Diskutanten nie vor den Rezitationen gelesen wurden. Gerade dieses Prozedere habe die Gruppe am Leben erhalten. Schärfsten Urteilen sei so der gruppensprengende Charakter genommen worden, da eine spontane Kritik „Aufrichtigkeit und Lebendigkeit“ zu gelassen, ohne einen „tödlichen […] Charakter“ zu haben.

Eine Rezension der Jubiläumstagung der Gruppe erscheint einige Tage später im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung am 1. Oktober 1957. Ingeborg Bachmann rückt neben Wolfgang Weyrauch und dem dänischen Autor Villy Soerensen im Text in den Fokus mit ihrem Gedicht „Strömung“, dessen Inhalt hier knapp aufgezeigt sei.

In wenigen Zeilen wird in Bachmanns Gedicht unter Verwendung des metaphorischen Kontexts des Lebens als Fahrt auf einem Ozean das lyrische Ich mitten im Dasein doch stets vom Tod umfangen geschildert. In seinem selbstaktiven und selbstbezogenen Handeln partizipiert es nicht ohne Gewalt an der Welt und nimmt sich den scheinbar ihm zugehörenden Teil.

So weit im Leben und so nah am Tod,
daß ich mit niemand darum rechten kann,
reiß ich mir von der Erde meinen Teil;

dem stillen Ozean stoß ich den grünen Keil
mitten ins Herz und schwemm mich selber an.

Dem nicht von einem Ziel geleiteten Vorstoß folgt abrupt der Rückzug, das Wahrnehmen einerseits von Heimeligkeit im Aufsteigen von Zinnvögeln und Zimtgeruch, andererseits erneut der eigenen Vergänglichkeit:

Zinnvögel steigen auf und Zimtgeruch.
Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein.
In Rausch und Bläue puppen wir uns ein

Isoliert von menschlicher Gemeinschaft verpuppt sich im letzten Vers das lyrische Ich zusammen mit der vergehenden, als „Mörder“ personifizierten Zeit. 

Oben erwähnte SZ-Rezension zur Jubiläumstagung der Gruppe 47 widmet sich dem Gedicht „Strömung“, in dem polare Stimmungen und Empfindungen, Aufbruch und Eskapismus nah beieinander liegen, wie folgt. Während auch die Stimmen anderer Kritiker kurz angesprochen werden, nach deren Urteil Bachmanns Texte bisweilen „zu schön“ klängen, hebt die Rezension vor allem den Vers „Mit meinem Mörder Zeit“ hervor, mit dem Ingeborg Bachmann jede Vertrautheit konterkariere. 

 

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