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Thomas Mann, 30.4.1900 (ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Atelier Elvira / TMA_0016)

Luisenstraße 22 und Ludwigstraße 16

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Abb. 6: Paul (von) Heyse, Altersbild (BSB, U 4 Kat. 1981).

Kein Autor war in München um 1910 berühmter und gefeierter als der aus Berlin gebürtige Romanist Dr. Paul Heyse (1830-1914). [Abb. 6] Er war der „Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter“, wie ihn 1981 eine Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek vorstellte, wo sein Nachlass verwahrt wird. Von König Maximilian II. im Jahre 1854 von der Spree an die Isar berufen, avancierte er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Haupt des Münchener Dichterkreises. Sein auf eigenen Übersetzungen beruhendes Spanisches Liederbuch (1852) und sein Italienisches Liederbuch (1860) vertonte Hugo Wolf. Heyse schrieb 180 Novellen, 60 Theaterstücke und neun Romane. Auch nach seinem Rückzug aus den königlichen Diensten blieb er an seinen beiden Wohnorten in München und in Gardone Riviera am Gardasee hoch geehrt und geachtet. Das in seinem Auftrag errichtete Wohnhaus an der Luisenstraße 22, eine spätklassizistische Villa hinter der Glyptothek, schräg gegenüber dem Lenbachhaus, gehörte zu den ersten Adressen in der Maxvorstadt. [Abb. 7]

 

Abb. 7: Heutige Ansicht des Wohnhauses. (c) Bernd Noelle

Paul Heyse lebte wahrlich, wie Gustav von Aschenbach, ein Leben „im bürgerlichen Ehrenstande, wie er dem Geiste in besonderen Einzelfällen zuteil wird.“[15] Die Stadt München ehrte den berühmten Mann 1900 zum 70. Geburtstag ebenso wie 1904 zum 50. Jahrestag seiner Übersiedelung nach München mit kostbar gestalteten Glückwunschadressen. Zum 75. Geburtstag im Jahr 1905 wurde die Heustraße in der Nähe des Bahnhofs nach dem Münchener Ehrenbürger in Paul-Heyse-Straße umbenannt. Die gesundheitsgefährdende Paul-Heyse-Unterführung – ein echter Hades-Eingang! – erhielt den Namen Paul Heyse allerdings erst 1957.

Spektakulärer Höhepunkt dieses, wahrlich, wie bei Aschenbach, auf Ruhm gestellten Lebens war das Jahr 1910 mit dem 80. Geburtstag im März, der Nobilitierung durch den Prinzregenten im Juni und der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im November.

An dem ehrenvollen Treiben um Paul Heyse hat sich Thomas Mann auf sehr bezeichnende Weise mit einer Widmung beteiligt. Die Bayerische Staatsbibliothek (Ludwigstraße 16) bewahrt im Nachlass Paul Heyses ein prächtiges, in Leder gebundenes Album, das aus über 300 Grußadressen „von Freunden und Verehrern“[16]  zu Heyses Geburtstag am 15. März 1910 zusammengestellt wurde. [Abb. 8]

Jeder Beiträger (und jede Beiträgerin) bekam ein Blatt mit dreifachem Goldrand und einem Quadrat in der Mitte zugesandt, um sich handschriftlich an dem Unikat zu beteiligen. Darin finden sich Grußworte von Kaiser Wilhelm II. und Prinzregent Luitpold, von den Malerfürsten Franz von Defregger, Friedrich August Kaulbach, Franz von Stuck, von den Schriftstellerkollegen Elsa und Max Bernstein, Hermann Bahr, Hedwig Dohm (Katia Manns Großmutter), Max Halbe, Hermann Hesse, Alfred Kerr, Ricarda Huch, und, neben vielen weiteren, eben auch von Thomas Mann (sowie von seinem Schwiegervater Prof. Dr. Alfred Pringsheim).

Und was schreibt Thomas Mann? Er schreibt einen Text, der von seinem Helden Gustav von Aschenbach stammen könnte. Von Aschenbach, dessen „ganzes Wesen auf Ruhm gestellt war“, heißt es doch, dass er gelernt habe, „von seinem Schreibtische aus zu repräsentieren, seinen Ruhm zu verwalten, in einem Briefsatz, der kurz sein mußte (denn viele Ansprüche dringen auf den Erfolgreichen, den Vertrauenswürdigen ein), gütig und bedeutend zu sein.“[17]

Und so, in diesem Stil, schreibt Thomas Mann, der damals 35-jährige Autor von Königliche Hoheit, dem Münchener Dichterfürsten ins Ehren-Album: „An Paul Heyse / zum 15. März 1910. / Dem ruhmreichen, vielgeliebten Meister / bittet seine Huldigung, seine ehrerbietigen / Glückwünsche darbringen zu dürfen / Thomas Mann / München“[18] [Abb. 9]

 

Abb. 8: Heyse-Album, Prachteinband (BSB Heyse-Archiv V.103a). Abb. 9: Widmung Thomas Manns im Heyse-Album zum 15.3.1910 (BSB Heyse-Archiv V.103a, Bl. 185).

Kurz, gütig und bedeutend, als wär’s ein Stück von Aschenbach! Doch das ist nur die eine Seite der Wahrheit. Wie sehr Thomas Mann den Dichterfürsten Paul Heyse schon im Sommer 1910 für démodé, für altmodisch und abgetan angesehen hat, verrät eine Stelle aus einem Brief an Maximilian Harden vom 30. August 1910 in der er sich zur aktuellen Literatur äußert:

Was gab und giebt es denn sonst? Heyse? Fontane hat sich oft in Sätzen voller Entzücken und Zärtlichkeit über „Paul“ geäußert; daß sich schließlich einige Ironie in sein Urteil über den sonnigen und fast unanständig fruchtbaren Epigonen mischte, der dem Neuen gegenüber so vollkommen versagte und noch heute auf Wagner und Ibsen wie ein Dummkopf schimpft, – ist das nicht verzeihlich?[19]

Die Übernahme des seinerzeit gefeierten, wenn auch schon abgelebten Dichterfürsten Paul von Heyse zu einer weiteren Maske Gustav von Aschenbachs lässt sich daher an dem pompösen Stil erkennen, mit dem Aschenbach zu Beginn des zweiten Kapitels mit der Auflistung von vier Werken bedacht wird:

Der Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen; der geduldige Künstler, der in langem Fleiß den figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer Idee versammelnden Romanteppich ‚Maja‘ mit Namen, wob; der Schöpfer jener starken Erzählung, die „Ein Elender“ überschreiben ist […]; der Verfasser endlich (und damit sind die Werke seiner Reifezeit kurz bezeichnet) der leidenschaftlichen Abhandlung über ‚Geist und Kunst‘ [...].[20]

Diese Werke waren allesamt vier unvollendete Werke Thomas Manns! Den Ton dazu scheint Thomas Mann wiederum dem Festartikel der Münchner Neuesten Nachrichten zu Paul Heyses 80. Geburtstag am 15. März 1910 entnommen zu haben:

Außerhalb der literarischen Kreise aber wird vor allem der Schöpfer lebensvoller Menschen, der Maler zwingender Stimmungsbilder, der Sänger hoher und inniger Herzensgefühle, der Streiter für Schönheit und freimütige, ehrliche, wahrheitsuchende Weltanschauung in Geltung bleiben, der Dichter Paul Heyse, dessen 80. Geburtstag mit dem auf seinen Ehrenbürger stolzen München ganz Deutschland feiert und dem auch die fremden Nationen als einem der besten Deutschen, einem Herrscher im völkerverbindenden Reich der Kunst huldigend sich neigen.[21]

Abb. 10: Paul Heyse: Grabanlage auf dem Waldfriedhof. Foto: Dirk Heißerer.

Thomas Mann eignet sich somit den Stil der öffentlichen Heyse-Eloge an, versieht ihn aber mit seinem Inhalt, mit seinen eigenen unfertigen literarischen ‚Baustellen‘. Und geht noch etwas weiter: Er sieht gewissermaßen hinter die Fassade dieses abgelebten Künstlertums. In einem Brief aus Bad Tölz schreibt er am 6. September 1915, die Novelle sei eine „Geschichte von der Wollust des Unterganges“, doch das „Problem“, das er besonders im Auge gehabt habe, sei „das der Künstlerwürde“ gewesen, er habe etwas geben wollen „wie die Tragödie des Meistertums“. Außerdem aber habe er „ursprünglich nichts Geringeres geplant als die Geschichte von Goethe’s letzter Liebe [Ulrike] zu erzählen“.[22]  Der Tod in Venedig wäre somit ein Abgesang auf das bürgerliche Zeitalter, das noch bis in die Zeit zurückreicht, da der 72-jährige Goethe sich in die 17-jährige Ulrike von Levetzow verliebt hatte;[23] die „Marienbader Elegie“ ist das literarische Zeugnis für diese existentielle Vergeblichkeit.

Das alles heißt aber nicht viel anderes, als dass Thomas Mann in seiner Novelle eine doppelte Künstler-Tragödie vorstellen wollte, einmal die des vorzeitigen Untergangs, wie sie Aschenbach widerfährt, aber auch die des alten, altmodischen, überlebten Künstlers, wie ihn Paul (von) Heyse damals vorstellte. Paul von Heyse starb am 2. April 1914 in München, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und wurde mit allen Ehren auf dem Münchener Waldfriedhof in einer eigenen Grabanlage bestattet. [Abb. 10]

 


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[15] GKFA 2.1, S. 515.
[16] BSB Heyse-Archiv V.103a.
[17] Vgl. GKFA 2.1, S. 508.
[18] Vgl. Dirk Heißerer: Paul Heyse adelt Gustav von Aschenbach. Mit einer unbekannten Widmung Thomas Manns in einem Prachtband der Bayerischen Staatsbibliothek, in: Bibliotheksmagazin 3/2013, S. 18-22. Vgl. a. https://www.literaturportal-bayern.de/journal?task=lpbblog.default&id=675
[19] Thomas Mann: Brief an Maximilian Harden, Bad Tölz, 30.8.1910, in: GKFA 21, S. 459-461, hier S. 459f. Vgl. Dirk Heißerer: Thomas Mann, der „Kronerbe Paul Heyses“ – Aspekte eines literarischen Generationenwechsels um 1900. In: Bertazzoli, Raffaela; Grube, Christoph; Och, Gunnar (Hrsg.): Kulturelle Mittlerschaft. Paul Heyse und Italien. Würzburg 2016. S. 175-186.
[20] Vgl. GKFA 2.1, S. 507f.
[21] N.N.: Paul Heyse. Zu seinem 80. Geburtstag. In: Münchner Neueste Nachrichten Nr. 122 vom 15.3.1910, S. 1.
[22] Thomas Mann: Brief an Elisabeth Zimmer. Bad Tölz, 6.9.1915. In: GKFA 22, S. 92f., hier S. 92.
[23] Vgl. GKFA 2.2, S. 379.

Verfasst von: Dr. Dirk Heißerer