Auf Instagram schneite es

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Juri Zaplin, 2020 (c) Juri Zaplin

„Auf Instagram schneite es“ ist ein aus Beobachtungen im Innen und Außen dicht gewobener Prosatext von Juri Zaplin. Zaplin ist 1972 in Charkiw geboren, wo er bis heute lebt. Der Lyriker und Prosaschriftsteller studierte zunächst an der Fakultät für Hochfrequenztechnik des Luftfahrtinstituts in Charkiw. Er ist Mitbegründer und -herausgeber der Literaturzeitschrift „Sojus Pisatelej“ (2000–2018, zu dt.: „Der Schriftstellerbund“) sowie Autor der Kurzprosa-Sammlung Malenki stschastliwy wetscher (1997, zu dt.: „Kleiner fröhlicher Abend“). Weitere Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften in der Ukraine, Russland, USA und Deutschland. 2017 nahm er an „Eine Brücke aus Papier“ in Charkiw teil. Einige seiner Werke liegen in englischer, deutscher sowie italienischer Übersetzung vor.

*

Wer wird nicht mitgenommen in die kommunistische Zukunft?

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Derjenige, der eine verschwitzte Tarnweste trägt.

R. L.

 

Rechts saß ein grauhaariger Mann aus der Russischen Welt in einer X-Protection-Jacke und las in einem gerade erschienenen Buch ein Kapitel über das Vermächtnis von Oleg Busina [prorussischer Journalist, ermordet 2015 – A. d. Ü.]. Links stand eine Frau mit einem abgerissenen Ärmel und einem hübschen Begleiter. Ihre Nachbarin schaute sich auf ihrem Handy ein Horoskop für Wassermänner an – und auf Instagram schneite es. Die Ärmel der Russischen Welt waren, ehrlich gesagt, schmierig, aber es ist nicht nett von mir, dem Erzähler, damit hausieren zu gehen. Der Satellit der Frau mit dem Ärmel sah vornehm aus, ordentlich. Bei der Nachbarin blinkten sieben ungelesene Nachrichten auf. In den unteren Schichten des Wagens verdichtete sich die Skihosenheit (was für eine erbärmliche Mode und Phrase! aber es geht nur so).

 

Nach Dina

Eine Menschenfrau mit Hut sitzt in einer hell erleuchteten Hütte und blickt in den dicht fallenden Schnee. Der Schnee fällt dicht auf die wenigen Autos auf dem Parkplatz. Der Parkplatz scheint ein Schwarzparkplatz zu sein, es gibt keinen Asphalt, keinen Kies unter den Autos, es gibt Erde und ein wenig Gras, das heißt, beides war im Sommer und im Herbst zu sehen; dann konnte man auch sehen, dass die Einfahrt zum Parkplatz leicht mit Kacheln und anderem Bauschutt aufgeschüttet war, die Kacheln dort sind interessant, vielleicht vorrevolutionär, mit einem Brandzeichen, mit einer tief ausgeschnittenen kreisförmigen Inschrift, grau, jetzt weiß ich es nicht mehr, warmes Grau oder kaltes Grau? Die Inschrift scheint keine Jers und keine Jates [Buchstaben des Russischen Alphabets bis 1918 – A. d. Ü.] zu haben, aber vielleicht ist das nur Zufall. Es gab hier schon einmal einen Parkplatz, vor etwa fünf Jahren, auch illegal, und er verschwand eines Tages: Jemand, der die Macht und einen Grund dazu hatte, muss es gemeldet haben – und jetzt, ein paar Jahre später, taucht er wieder auf. Es ist schwierig, dies politisch zu interpretieren, wenn man nicht speziell geschult ist und Nachforschungen anstellt: Die zentralen Behörden haben sich seitdem geändert, aber die städtischen nicht, die Miliz [so hieß die Polizei in der UdSSR – A. d. Ü.], die Polizei, die Frau mit dem Hut, die Hütte auf dem letzten Parkplatz war nicht so hell beleuchtet, aber es gab eine kleinere Hütte, in der die Hündin Dina lebte, die wir Druschok nannten, weil wir nicht wussten, dass es Dina war. Zuerst war sie ganz klein, dann wurde sie größer, sie lag nie an der Kette, ging oft auf der Wiese nebenan spazieren und liebte es, mit den Kindern zu spielen. Da Dina auf einem Parkplatz aufwuchs, waren parkende Autos uninteressant für sie, aber auf der benachbarten Straße jagte sie oft den Autos hinterher, und eines davon hatte sie ganz schön zugerichtet; als Erinnerung an diese Begegnung hat Dina einen weißen Fleck am Auge. Wann war das? Wie viele Jahre haben wir die glatthaarige, schwarze Dina nicht mehr gesehen?

Die Menschenfrau sitzt aufrecht, streckt sich gelegentlich und liest ein weiches Pappbuch. Manchmal fahren Autos durch die nun schneebedeckte Wiese, was man nicht tun sollte (und keine Schwarzparkplätze einrichten), und damit sie es nicht tun, sind Betonpoller an einem Rand der Brache aufgestellt worden, entweder aus Dummheit oder absichtlich nicht durchgehend, und die Durchfahrt ist frei geblieben, die Spurrillen sind tief und nass, Schnee fällt in die Spur, vorsichtige Menschen flattern über die Huckel. Die Menschenfrau schaut aus einem hellen Kiosk in die schwarze Nacht, vor deren Hintergrund Schneeflocken vorbeihuschen, und erinnert sich auch an eine Dina aus ihrer Jugend oder Kindheit, oder vielleicht heißt die Frau selbst so, und dann erinnert sie sich an sich selbst (obwohl sie bestimmt anders heißt).

 

Auf dem nassen Boden

und dem Gras vom letzten Jahr laufen zwei Menschen. Unterschiedlichen Geschlechts, aber ähnlich dunkel gekleidet. Mit einer Vielzahl von Taschen und Tüten. Einer, oder eher eine (oder eher die zweite: sie läuft hinterher) schleppt einen Sack auf dem Rücken. Aus weißer Synthetik? Von weitem nicht zu erkennen. Müllsammler, die unterwegs sind, um ihren Müll zu sortieren. Oder einfach arme Leute, die Sachen von irgendwo irgendwohin tragen. Heute ist es sonnig. Ein bisschen Schnee liegt auf dem Asphalt. Und auf dem Gras. Und auf der Straße sind Pfützen, durch die Autos fahren, und die glitzern heller als alles, nur nicht heller als die Sonne. Den dunklen Menschen ist heiß. Mit einem weißen Sack ist es nicht ganz so heiß, aber der Sack ist schwer. Der eine Mensch hat den Reißverschluss schon aufgemacht, der andere wohl noch nicht. Auf dem Rasen und auf den Dächern der Container (wir schauen von oben) liegen verstreut Altreifen. Mit denen auf dem Rasen spielen manchmal die Hunde. Und auf den Dächern könnten wahrscheinlich große Vögel ihre Nester in solchen Reifen bauen.

Aber sie bauen keine.

 

(Beschreiben Sie das Zimmer)

Rechteckig im Grundriss, mit doppelt so vielen Sachen und Möbeln wie auf den Magazinfotos, obwohl es in den Magazinen keine solchen Möbel und Sachen gibt. Oben hängt ein Kronleuchter mit toten Insekten und eine lebende Person läuft manchmal unter dem Kronleuchter.

 

Es beginnt, was beginnt

Du beginnst eine Geschichte zu lesen und du hörst, wie die veraltete Prosamaschine läuft und wie die anachronistische Übersetzungsmaschine arbeitet.

Sie brummen laut, obwohl es vor kurzem noch so schien, als würden sie gar nicht brummen. Entweder ist das Gehör feiner geworden, oder sie sind nun wirklich müde.

Aber dann ist der Auftakt zu Ende, es beginnt, was beginnt – und es gibt keine Maschinen mehr.

Mal sind sie da, mal nicht.

Und jetzt bist du selbst die Maschine. Du bist die Maschine, auf der alles gespielt und orchestriert wird, was passiert und was nicht passiert. Man fragt sich nur, warum es dafür noch Worte von irgendjemandem braucht.

Und deren Übersetzung. Warum du dich nicht selbst aufführen, selbst geschehen lassen kannst.

Dennoch liest du weiter – und die Geschichte schreibt dich weiter und auch sich selbst (und die Übersetzung übersetzt sich weiter). Und obwohl ihr es alle wisst, sagt und schweigt ihr nur über das, was alle sowieso schon wissen.

Und nun kommst du zum Schluss. Bist schon fertig.

Der Buchstabe eines Menschen steht auf vom Tisch und schaut in das Buchstabenfenster (gleich kommt die Sonne raus).

 

Die Reise der Musik um die Seele

Die Seele ist drinnen, aber ihre Ohren gucken raus.

Und die Augen.

Und die Nase.

Und die Härchen in den Nasenlöchern.

Und die Fältchen.

Und die Altersflecken. Und die Sehnsüchte.

Auch wenn die Seele manchmal glaubt, dass sie nicht hervorstechen.

Aber sie tun es dennoch. Es ist nur so, dass niemand hinsieht.

Manchmal wünscht man sich, sie würden hinschauen. Wenigstens mal schauen, wenn schon nicht richtig hinsehen.

Aber nein. Sie schauen auf andere Dinge. Auf andere Menschen. Nicht auf die Seele.

(Denn da ist nichts, sie ist nicht da. Nur ihre Ohren stechen hervor. Und ihre Augen natürlich, und ihre Nase).

 

Die Seele ist draußen, aber ihre Stimme ist drinnen.

In der Leere, die für die einen quälend, für die anderen befreiend ist.

Die Stimme der Seele hallt darin wider, und dann klingt die Seele mit der Leere wie ein Erdbeben mit einem Glas.

 

Die Seele ist überall.

Aber vor allem zu Hause.

Vor allem auf kurzen Reisen (von zu Hause).

Vor allem in fremden Städten (wenn man nicht lange bleibt).

In anderen Menschen (wenn man sie ein bisschen liebt).

Und im Wald. Und an einem Flussstrand, wo die verachtenswerte, alberne Musik der ewigen Kindheit spielt – auch wenn die Musik selbst keine Seele zu haben scheint.

Eine Paraphrase fremder Entdeckungen, Gedanken, Notizen, an sich nutzlos. Könnte vielleicht nützlich sein, wenn es mal passt. (Sie: Wenn du es in die Finger bekommst.)

 

Porträt des Autors Juri Zaplin von (c) Alexander Milstein

 

Ein Boxerhund und eine Feder

Ein Kind erzählt mit schäumendem Mund von einem Traum: „Und eine Box wird für uns singen!“

Eine andere, auch ein Kind, im Hausflur: „Eine Feder!“ Niemand sieht die Feder, aber sie sieht die Feder.

 

Dünne Stimmen

Als der Benutzer einer Mülltonne näher herantrat, hörte er etwas mit einer dünnen elektronischen Stimme darin singen.

Eine True Story, und es hätte der Beginn eines Romans oder einer Reportage sein können – aber in der Kindheit wurde dem Benutzer beigebracht, dass es nicht angebracht ist, in Mülltonnen zu graben, und dass es auch nicht gut ist, hineinzuschauen. Also wurde daraus weder ein Roman noch eine Reportage.

Vom Gelände der Baufirma hört man das melodische Quietschen der sich drehenden Maschinen – genau das Quietschen, das die Schaukeln in der Kindheit der Benutzer erzeugt haben und vielleicht auch derer, die an den Maschinen arbeiteten, – und in jemandes Kindheit tun sie es immer noch, alle diese Kindheiten mit einem leicht rostigen, nie endenden „Hier“ verbindend.

 

Der siebte Juli

Drei betrunkene Typen in schwarzen T-Shirts kommen hinter den Garagen hervor, schlurfend und furchtbar langsam. Sie gehen vorbei an „Haarschnitt 50 Griwna“ und betreten den „Lebensmittelladen“.

Dem dritten läuft ein Hund nach. Der Betrunkene hält ihm – mit größter Vorsicht – die Tür auf (er traut sich dennoch nicht hinein).

Eine Fledermaus fliegt. Ein kleines Männchen fährt auf einem leuchtenden Roller.

 

Die drittunbewohnbarste

Stadt Osteuropas. Jeden Abend Nebel. Die Laternen ziehen paarweise herüber: knietief, hüfttief, brusttief. Und tagsüber Hitze. Niemand ist da, um Touristen als Gäste zu bezeichnen, und es gibt keine Touristen. Ein verrücktes Eichhörnchen hüpft auf der Rathausmauer herum, aber selbst das ist auf unbestimmte Zeit beurlaubt, unbezahlt. Der Brunnen steht still, die Automaten sind ausgeschaltet, die Billboards werbefrei – umso merkwürdiger, dass im nächsten Dorf Eis verkauft wird, zehn Kilometer weiter eine Kunstgalerie eröffnet hat und die Weiler am Seegürtel florieren. Drohnen, von dort losgeschickt, haben sich in Scharen versammelt und kreisen über der Sitzung des Liquidationskomitees, das sich im Schatten des Denkmals unversehens, aber mit leisem Knall der Erleichterung entkörperlicht. Die Stadt bleibt. Jemand, der schon einmal eine Stadt war, wird nie etwas anderes werden.

 

Chuguev

Wie von einem Provinzmuseum nur der Geruch im Gedächtnis bleibt, obwohl niemand sagt oder auch nur denkt, dass Provinzmuseen um des Geruchs willen existieren, ... – Ich weiß nicht weiter, der zweite Teil des Vergleichs ist noch nicht geboren.

Der Geruch, die Ölfarbe an der Tür, die gekalkte Wand ... Dielen, ein Fußabtreter: verschwindende Szenerien erzählen von verschwundenen Szenerien. Plötzlich erkennst du den Reiz des Rückzugs, wenn sich einige Zeitströme umkehren - und das, was dir lieb war, was im Begriff war zu verschwinden, taucht ein in die Vergangenheit, die in der Zukunft liegt.

 

Februar. Opa,

die Maske am Kinn, sitzt auf einer Parkbank und blinzelt in die Sonne. Er lächelt, die dünne gelbe Haut spannt sich um seinen Schädel. Die Kirche des ukrainischen Patriarchen (neues Kosakenbarock?) blickt über den Park auf die Kirche des russischen Patriarchen (wie immer). Die ukrainischen Fahnen flattern – aber auch die anderen, die unsichtbaren, sie flattern auch.

 

Ein älteres Ehepaar mit seiner Enkeltochter

geht durch eine Gasse in einem Neubauviertel von Charkiw und hört Radio. „Die Streitkräfte der Donezker Volksrepublik sind in ständiger Alarmbereitschaft ...“ – sagt das Radio mit einer widerlichen Russ-Medien-Intonation, ich drehe mich um und schaue das Paar mit einem, wie ich glaube, schweren Blick an – ob sie sehen, dass ich sie anschaue, und ob sie reagieren, das kann ich aufgrund meiner Kurzsichtigkeit nicht sagen (was für einen Grund kann sie denn haben) und aufgrund der Dämmerung (die Dämmerung hat einen Grund). Warum zum Teufel hören sie Feindsender? Wollen sie, dass Russland kommt? Will das der Papa? Ist er in der DNR [Donezker Volksrepublik – A. d. Ü.]? Oder vielleicht (so denke ich einen Monat später, als ich diese Notiz mitten im Krieg beende) sind sie für uns und haben die andere Seite nur beobachtet, um ... leider unwahrscheinlich.

 

Es ist so still

in der Nacht des 13. Mai, in der ersten Stunde! Flieder, Pfingstrosen und andere Blumen duften. Der Mond. Die Wolken. Wieder der Mond. Ein Hund schüttelt sich und seufzt. In der Ferne höre ich einen Umspannkasten. Im Nachbarhaus, im sechsten Stock, plaudern kleine Kinder mit ihrer Mutter, klangvoll und fröhlich, warum schlafen sie nicht? Und irgendwo ist Krieg („Und irgendwo ist immer Krieg“). Autos blinken in unregelmäßigen Abständen. Niemand hat mit diesem fast schwerelosen Regen gerechnet.

 

Wir sind wie erstarrt,

während die Zeit vergeht, aber wenn sie noch nicht gegangen ist, leckt sie uns plötzlich auf mit ihrer langen Zunge; aber die Zeit denkt, dass sie nichts „plötzlich“ tut; ihrer Meinung nach fließt alles unaufhaltsam und ruhig von einem zum anderen, es gibt nichts, worüber man sich wundern müsste; die Zeit freut sich immer, dich zu sehen, Menschen wie dich rollt sie angenehm auf der Zunge wie mikroskopische Bläschen (die natürlich zerplatzen); aber die Zeit besteht nicht aus Menschen wie dir, sie hat überhaupt keine Zusammensetzung, deshalb ist es unmöglich, sich von ihr zu distanzieren und vor ihr wegzulaufen; ist es möglich, ein Zeitjäger zu sein? Ist es möglich, ihr etwas in den Rücken oder in die Kehle zu stechen (die es nicht gibt); ist es möglich, der Zeit einfache oder komplizierte Fallen zu stellen (alles ist klein im Vergleich zur Zeit); oder ist es vielleicht möglich, winzige Stücke aus der Zeit herauszureißen oder gar aufzusammeln, um sie im eigenen Stamm, im eigenen Team, in der eigenen Herde zu sammeln, um sie dann irgendwie zu kochen, zu verwenden? Ist es möglich, sie in der Erde zu vergraben, um viele neue Zeiten wachsen zu lassen, fragen die Bläschen, aber die Zeit antwortet nicht und kitzelt durch ihre Existenz oder Nichtexistenz jemanden auf der Zunge, der unendlich dicken Zunge des absolut nichtexistenten Gottes, der erstarrt darauf wartet, dass die Zeit vergeht.

 

In einem Schwarm Mauersegler

flattert ein Blatt Papier: bald der eine, bald der andere Mauersegler fliegt heran, will lesen, was darauf steht; und es scheint, dass, solange nicht jeder Mauersegler darauf geflogen ist, das Blatt nicht fallen darf; und dann trennt es sich doch vom Schwarm und schlüpft in ein Unkrautgestrüpp – und die Mauersegler schreien nicht mehr darüber und nicht über das, was sie darauf gelesen haben, sondern über etwas Eigenes.

(Deutsch von Boris Borisovich)