Info
25.11.2021
20 Uhr
Camerloher-Gymnasium, Wippenhauser Straße 51, Freising
Eintritt: frei
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39. Literarischer Herbst: Lesung mit Ronya Othmann

„Eine Geschichte erzählt man immer vom Ende her. Auch wenn man mit dem Anfang beginnt.“ Davon ist Leyla überzeugt, wenn sie an die Sommer ihrer Kindheit denkt. Im Kopf geht sie im Dorf den Schotterweg zwischen den Gärten entlang bis zum schönsten Garten, in dem das Haus der Großeltern steht. Das Dorf liegt in Kurdistan, einem Land, das es offiziell gar nicht gibt, auf der syrischen Seite, nahe an der Grenze zur Türkei.

Von dort ist Leylas Vater in den 1980er Jahren nach Deutschland geflüchtet, weil er als Kurde in Syrien keine Bürgerrechte hatte und zudem wegen seiner Gegnerschaft zum Assad-Regime politisch verfolgt wurde. Trotzdem bekam er erst nach elf Jahren einen Asylpass. Er heiratete eine deutsche Krankenschwester aus dem Schwarzwald und so wurde Leyla ein Kind zwischen zwei sehr unterschiedlichen Welten.

Ihr deutsches Zuhause in der Siedlung mit den Häusern, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen, ist geordnet und bequem, aber die kleine Familie bleibt meist unter sich. Fast nie kommt jemand zu Besuch. Ganz im Gegensatz zum großelterlichen Haus, das überquillt von Tee trinkenden und schwatzenden Tanten und Nachbarinnen, lärmenden Cousinen und Cousins. Mitten drin die Großmutter, klein und zerbrechlich und dennoch ein Ruhepol, den nichts erschüttern kann. Dieses Sommerleben bei der väterlichen Verwandtschaft, fremd und vertraut zugleich, prägt sich unauslöschlich in Leylas Seele ein und macht sie glücklich.

Die tief empfundene Bindung an ihr Dorf mit seinen Menschen wird Leyla später in einen psychischen Spannungszustand versetzen, der ihr ein normales Leben nahezu unmöglich macht.

Längere Zeit schon hat Leyla Veränderungen im Ort wahrgenommen: Häuser verfallen, Leute gehen weg. Assad ist allgegenwärtig, sein Bild hängt in jeder noch so kleinen Amtsstube. Im kalten März fährt sie plötzlich mit den Eltern nach Italien. Sie treffen dort Tante Pero, die mit ihren beiden Söhnen geflüchtet ist, in Glitzerpulli und engen Jeans, als Europäerin verkleidet.

Dann, nach einer kurzen Phase der Hoffnung auf Demokratie, während der der Vater, nervös auf Sonnenblumenkernen kauend, stundenlang vor dem kurdischen Programm am Fernseher gesessen ist, beginnt der Krieg. Leyla kann nicht in ihr Dorf reisen. Ihre Freundin Bernadette freut sich schon auf einen unbeschwerten Feriensommer mit ihr am heimischen Badesee. Doch Leyla denkt an ihre gefährdete kurdische Familie und findet keine Ruhe.

Das wird über Jahre so gehen. Sie macht Abitur, geht zum Studieren nach Leipzig, klammert sich an eine Beziehung zu einer Frau. Ihre Seele reibt sich wund am Leiden dieses geschundenen Landes und an der Gleichgültigkeit ihrer Umgebung. Bis sie wach wird und zaghaft auf diejenigen zugeht, die nicht gleichgültig sind.

Für Ronya Othmann ist die Lesung im Freisinger „Literarischen Herbst“ sozusagen ein Heimspiel. 1993 in München geboren, verbrachte sie etliche Jahre ihrer Kindheit und Jugend in Neufahrn und machte am Camerloher-Gymnasium Abitur. Danach studierte sie am Leipziger Literaturinstitut und bekam den MDR-Literaturpreis, den Caroline-Schlegel-Preis für Essayistik, den Lyrik-Preis des Open Mike und den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann Wettbewerbs. Sie lebt in Leipzig und arbeitet journalistisch über Nahost Politik.

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