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19.12.2014, 08:41 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [530]: Ausläuten oder Sieben Letzte Worte an die Leser der Lebensbeschreibung und der Idylle und des Blogs, geschrieben in einer Dezember-Nacht

Heute wird also meine kleine Rolle, wenigstens für den ersten Auftritt, aus; sobald ich die sieben Worte gar geschrieben habe: so gehen ich und die Leser auseinander. Aber ich trete trauriger weg als sie. Ein Mensch, der den Weg zu einem weiten Ziel vollendet hat, wendet sich an diesem um und sieht unbefriedigt und voll neuer Wünsche über die zurücklaufende Straße hin, die seine schmalen Stunden wegmaß und die er, wie eine Medea, mit Gliedern des Lebens überstreuete.

Ja, lieber Leser, wir müssen bald Abschied nehmen. Der Dichter liefert dem Blogger die rechten Sätze, es geht aufs Ende zu, und der Kommentator des großen, großen Romans verhehlt nicht, dass ihm nicht allein bei der Lektüre der ersten Sätze des nun wirklich letzten Kapitels der Unsichtbaren Loge die Kehle sanft zugeschnürt wurde. Es geht nun schnell auf den Abschied zu, das Ende des Weges liegt hinter der nächsten Biegung, dann wird die Geschichte, dann wird dieses Blog ein Ende haben. Wie sollte man da nicht gerührt sein? Zumal, wenn der Dichter noch einmal seine letzten und besten Kräfte zusammennimmt, um die geborne Ruine in einem seltsamen Sinne abzuschließen – denn es geht um den Tod, auch um den Tod, der, im Sinne Jean Pauls, erst das wahre Leben ermöglicht: über alle Vernichtungen hinweg.

Nein, man muss, selbst aus abgehärtetster atheistischer Position heraus, nun nichts mehr kritisieren. Die Sieben Letzten Worte auf den sieben letzten Seiten müssen gelesen werden; man kann das finden, wie man will – du, geduldiger Leser, musst diesen ungeheuren Text erst einmal lesen. Ich werde, schrieb der Dichter an Karl Philipp Moritz, selten eine Stunde haben, wo mein Herz so hoch schlug, wo mir fast alle Sinnen so vergingen, wie in der Geburtsstunde jener Sieben Worte. Was sagt es schon, wenn ich Dir beispielsweise mitteile, dass der Schwarzenbacher Schulmann sich hier noch einmal an zwei geliebte, vor der Zeit gestorbene Freunde erinnert, die er in seine grandiose Traumvision einbaut? Nein, lieber Leser, Du musst selbst durch dieses kosmische Traumgebirge steigen, musst Dich von der Erde zu Jean Pauls Gottesvisionen erheben. Du musst nichts davon glauben, aber Du solltest es wahrnehmen, um zu begreifen, dass der Schlüssel für all die Wirrnisse des Romans – und für den versöhnlichen, wie nichts bewegenden Schluss des Wutz – in einer Auflösung liegt, der sich der Dichter und Visionär nur durch einen weiten, weiten Ausblick in die Ferne nähern konnte. Gewiss, keine der letzten Fragen des Romanfragments wurde beantwortet, auf der Ebene der zeitgenössischen Schauer- und Abenteuerliteratur verharrte der Dichter an irgendeinem beliebigen Punkt, der nicht erwarten ließ, dass es zuletzt aufs Kosmische hinausgeht, insofern die Sieben Letzten Worte für den kühl kalkulierenden Interpreten vielleicht nicht mehr sein können als der verzweifelte Versuch des Autors, über die Höhlen und Gräber der Romanruine einen Sinn zu stiften, der dem Dichter und dem Roman selbst verloren ging. Was verschlägt's? Das Leben ist ein Fragment, wir wissen wenig, Jean Paul wollte es anders wissen, glauben, hoffen – es ist gut, meine Freunde.

Und er gibt uns, und damit allen Freunden und solchen, die noch an Freundschaft glauben und vor allem denen, die keine Freunde haben, vorletzte Worte auf den Weg, über die, glaube ich, nicht zu rechten ist:

O ihr guten Menschen! warum ist es möglich, dass wir uns untereinander auch nur eine halbe Stunde kränken? – Ach, in dieser gefährlichen Dezember-Nacht dieses Lebens, mitten in diesem Chaos unbekannter Wesen, welche die Höhe oder Tiefe von uns entfernt, in dieser verhülleten Welt, in diesen bebenden Abenden, die sich um unser zerstäubendes Erdchen legen, wie ist es da möglich, dass der verlassene Mensch nicht die einzige warme Brust umschlinge, in der ein Herz liegt wie seines und zu der er sagen kann: „Mein Bruder, du bist wie ich und leidest wie ich, und wir können uns lieben“? – Unbegreiflicher Mensch! du sammelst lieber Dolche auf und treibest sie, mitten in deiner Mitternacht, in die ähnliche Brust, womit der gute Himmel deine wärmen und beschirmen wollte!...

Ja, die Dezember-Nacht dieses Lebens... Sie könnte erleuchtet werden durch Freunde, die einem schon im Diesseits die Verbindung mit einem Jenseits stiften, das man vielleicht, trotz aller Schmerzen bei den furchtbaren Abschieden von der Liebe und den Lieben, trotz aller pulsierenden Erinnerungen an einstige Umarmungen, nicht mehr benötigt, wenn man sie für eine gewisse Zeit besitzt.

Und nun genug mit dem Kommentar! Das letzte Wort soll, natürlich, der Dichter haben, der sich im allerletzten Satz an den Freund wendet, dem wir – lange ist das her, so lange – vor über zwei Jahren am Beginn des ersten Blogeintrags begegnet sind.

So schließt sich zuletzt noch der gewaltige Kreis.

Tief im Menschen ruht etwas Unbezwingliches, das der Schmerz nur betäubt, nicht besiegt. – Darum dauert er ein Leben aus, wo der beste nur Laub statt Früchte trägt, darum wacht er fest die Nächte dieser westlichen Kugel hinaus, wo geliebte Menschen über die liebende Brust in ein weit entlegenes Leben wegziehen und dem jetzigen bloß das Nachtönen der Erinnerung hinterlassen, wie durch Islands schwarze Nächte Schwanen als Zugvögel mit den Tönen von Violinen fliegen – – Du aber, den die zwei schlafenden Gestalten geliebt und in dem sie mir ihren und meinen Freund zurückgelassen, du mein mit ewiger Hochachtung geliebter Christian Otto, bleibe hienieden bei mir!

Foto: Uhr am Parc Güell in Barcelona, September 2014

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