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17.12.2014, 13:51 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [528]: Letzter Sektor, viele Fragen

Es geht nun alles sehr schnell, ja: für Jean Pauls Verhältnisse geht es derart rasant zu, dass der Leser den Eindruck hat, der Dichter wolle aufs Schnellste diesen Teil des Romans abschließen. Es verhält sich ein bisschen wie in Wagners Tristan: in den letzten 15 Minuten passiert rein aktionistisch mehr als in den vier Stunden zuvor. Mord und Totschlag, Überfälle – ein wenig ist das wie im Letzten Sektor der Loge.

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So beginnt der Letzte Sektor: nicht mit einer zünftigen Titelei, sondern mit nicht weniger als neun Kreuzen. Auch wird er nicht vom Biographen, sondern von der Schwester geschrieben, die wiederum nur einen Briefbericht Dr. Fenks mitzuteilen hat (und darüber klagt, dass sie nur in Notzeiten ihres Bruders gebraucht wird). Das Tempo zieht an, die Hast nimmt überhand, schon in den ersten Zeilen wird die Botschaft – mit bezeichnender Kursive – übermittelt: „Gustav liegt da im Gefängnis“. Da: das heißt in Maußenbach.

Seltsame Geschichte: der dumme Hoppedizel wollte wieder einmal einen Streich veranstalten und im Maußenbacher Schloss einbrechen – und nun, schreibt Fenk, verknüpfen sich eine Menge Umstände und Personen, die schwerlich der Zufall zusammengeleitet hat. Wir erfahren nur nicht, was das Gegenteil des Zufalls sein soll. Hoppedizel also, der gleichsam falsche Dieb, stößt mit seinen sechs Spießgesellen im Schloss auf echte Diebe, der Nominalist gerät in Kontakt mit dem Realist, wie Fenk geistreich mitteilt. Röper wacht auf und inhaftiert das gesamte Gesindel, gut. Soweit ist alles klar. Kolb und Robisch durchsuchen nun die Gegend, um die Bundgenossen des echten Diebs zu suchen, entdecken im Wald eine unterirdische Höhle – und finden dort Gustav, der nun im Kerker schmachtet. Ottomar aber, der ja mit Gustav auf Siebenwochentour ging, ist nicht bei ihm; er wird von Fenk in Ottomars Haus aufgesucht, der ihm das Unglück mitteilt, woraufhin Ottomar ihn überraschenderweise fragt, „ob keiner mit sechs Fingern gefangen genommen worden“. Sechs Finger? Einer der tonsurierten Fremden an Ottomars vermeintlichem Leichnam hatte sechs Finger! Doch nun geht es aufs Ende zu – denn Ottomar hatte in der Höhle einen schweren Eid getan, unsere unterirdische Verbindung niemand zu offenbaren, ausgenommen eine Stunde vor meinem Tode. Im Nebenbei wird auch klar – das heißt: nichts wird wirklich klar – wieso Jean Paul seinem Roman den Titel Mumien beigab: denn das nächtliche Gespräch findet unter Wachs-Leichnamen, also in jenem Raum statt, wo die wächsernen Mumien mit schwarzen Sträußern stehen, die den Menschen erinnern, wie wenig er war, wie wenig er ist.

Den Schluss aber muss uns Fenk selbst erzählen, er ist zu stark:

Das Ausschlagen jeder Viertelstunde hatte bisher mein Herz durchstochen; aber die letzte Viertelstunde tönte mich wie eine Leichenglocke an; ich bewachte ängstlich seine Hände und Schritte; er fiel um mich. „Nein! nein!“ sagt' ich, „hier ist kein Abschied – ich hasse dich bis ins Grab hinein, wenn du etwas im Sinne hast – umarme mich nicht.“ – Er hatt' es schon getan; sein ganzes Wesen war ein schlagendes Herz; er wollte in der Empfindung der Freundschaft vergehen; er presste seine Brust an meine, und seine Seele an meine: „Ich umarme dich“ (sagt' er) „auf der Erde – in welche Welt auch der Tod mich werfe: ich vergesse deiner nicht; ich werde dort nach der Erde sehen und meine Arme ausbreiten nach dem irdischen Freunde, und nichts soll meine Arme füllen als die getreue, die belastete Brust derer, die mit mir hier gelitten, die mit mir hier die Erde getragen haben.... Sieh! du weinst und wolltest mich doch nicht umarmen! o Geliebter! – an dir fühl' ich die Eitelkeit der Erde nicht – – du wirst ja auch sterben!... Großes Wesen über der Erde....“ – Hier riss er sich von mir und stürzte auf seine Knie und betete. „Zerstör mich nicht, bestraf mich nicht! – ich gehe weg von dieser Erde; du weißt, wo der Mensch ankommt; du weißt, was das Erdenleben und das Erdentun ist – Aber, o Gott, der Mensch hat ein zweites Herz, eine zweite Seele, seinen Freund! Gib mir den Freund wieder mit meinem Leben – wenn einmal alle Menschenherzen stocken und alles Menschenblut in Gräbern verfault: o gütiges, liebendes Wesen! hauch dann über die Menschen und zeige der Ewigkeit ihre Liebe!“ Ein Aufsprung – ein Flug an mich – eine umarmende Zerdrückung – ein Schlag an die Wand – ein Schuss aus ihr–

Er lebt aber noch.

Das letzte Wort des Letzten Sektors aber ist schlicht „Fenk“ – womit der Sektor, aber nicht der Roman, oder anders: das Textkonvolut Die unsichtbare Loge, geschweige denn das Blog beendet ist. Abgesehen davon, dass man noch darüber nachdenken müsste, was es mit dem Sechsfingrigen und Ottomars Vernichtminute auf sich hat. Das Erste wird sich nicht lösen lassen, das zweite gehört mehr in die innere mystische Natur dieser Figur, deren Depressionen sich offensichtlich sehr aktiv äußern können: bis hin zum Wissen, dass es jetzo zuende gehen könnte – oder visioniert der arme Ottomar sich nur wieder in eine Sterbephantasie hinein? Doch wäre es nicht zu billig, in ihm nur einen gleichsam normalen Hysteriker zu erblicken? Abgesehen davon, dass wir nicht wissen, wie es mit Gustav weitergehen wird. Möglich ist es, dass er...

Rätsel über Rätsel.

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