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25.08.2014, 15:51 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [468]: Klage über den Unschuldsverlust

Man muss zugeben, dass Gustav in seinem Abschiedsbrief nicht unter dem Niveau bleibt, auf das ihn der Autor gestellt hat. In der Trias von Leid, Schmerz und Jammer enthüllt sich das versehrte, ja: zertrümmerte Herz, das nun von Beata Abschied nimmt. Aus der Perspektive Gustavs ergibt sich die Verlängerung kurzen Glücks in ein langes Unglück wie von selbst: O dass es doch Stunden hienieden geben kann, die den vollen Freudenbecher des ganzen Lebens tragen und ihn mit einem Fall zersplittern und die Labung aller, aller Jahre verschütten dürfen!

Nein, Gustav muss noch nicht wissen, dass die Zeit zwar gewiss nicht alle, doch viele Wunden zu schließen vermag. Wir müssen seine Unnachgiebigkeit gegenüber dem Mahlstein des Schicksals seiner Jugend – und dem pathetischen Ungestüm seines Autors – zugute halten; woher soll er auch wissen, dass ein junger Mann, der gerade den Knabenhosen entwachsen ist, nicht wissen kann, dass das Herz ein sehr dehnbarer, widerstandsfähiger kleiner Muskel ist, wie Woody Allen das mal sehr schön (in Hannah und ihre Schwestern) ausgedrückt hat.

Man halte diese Position nicht für die Ansicht eines zynischen alten Libertins. Darin steckt nur ein gewisses Gran an neurophysiologisch fundierter Kenntnis – denn anders wäre das Leben, das sog., nicht zu ertragen, nicht zu leben – und nur zu beenden. Wir wollen auch nicht annehmen, dass Gustav unter dem broken-heart-Syndrom leidet, wofür er definitiv zu jung ist, denn auch ein derartiges Syndrom verlangt ein bisschen Lebenserfahrung.

Obwohl... Obwohl: ich kann Gustav sehr gut verstehen. Ist nicht die Erinnerung an die Umarmung, an den Duft Beatas – den der Autor wohlweislich nicht erwähnt hat –, an ihre Wange und ihre Augen (natürlich: die schönsten Augen der Welt, denn die Augen der Geliebten sind immer die schönsten Augen der Welt, und auch dies ist natürlich, wenn etwas natürlich ist in der Logik der Liebe, die nach einer neueren These angeblich kein „Gefühl“ ist) – ist also nicht, sage ich, die Erinnerung an all diese Unvergleichlichkeiten Grund genug für Gustav, einen doppelten Verlust zu beklagen, der durchaus noch nicht ausgemacht ist? Den Verlust der einen und den Verlust der anderen „Unschuld“? Der eigenen und der anderen, des Engels?

Ist es deshalb nicht fast verständlich, dass der Schluss des Briefes zwar nichts zurücknimmt an Fluchtversprechen und Selbstkasteiungsattacken, aber ein winziges Türchen in die Ewigkeit einer unendlichen Vereinigung geöffnet wird? Sie mag noch abstrahlen auf das Diesseits:

Beata, Beata, an keiner Menschenbrust wirst du stärkere Liebe finden, als meine war, wiewohl stärkere Tugend leicht – aber wenn du einmal diese Tugend gefunden hast, so erinnere dich meiner nicht, meines Falles nicht, bereue unsre kurze Liebe nicht und tue dem, der einmal unter dem Sternen-Himmel an deiner edlen Seele lag, nicht unrecht.... O du meine, meine Beata! in der jetzigen Minute gehörest du ja noch mir zu, weil du mich noch nicht kennest; in der jetzigen Minute darf noch mein Geist, mit der Hand auf seinen Wunden und Flecken, vor deinen treten und um ihn fallen und mit erstickten Seufzern zu dir sagen: liebe mich!... Nach dieser Minute nicht mehr – – nach dieser Minute bin ich allein und ohne Liebe und ohne Trost – das lange Leben liegt weit und leer vor mir hin, und du bist nicht darin – – – aber dieses Menschen-Leben und seine Fehltritte werden vorübergehen, der Tod wird mir seine Hand geben und mich wegführen – die Tage jenseits der Erde werden mich heiligen für die Tugend und dich – – – dann komm, Beata, dann wird dir, wenn dich ein Engel durch dein irdisches Abendrot in die zweite Welt getragen, dann wird dir ein hienieden gebrochnes, dort geheiligtes Herz zuerst entgegengehen und an dich sinken und doch nicht an seiner Wonne sterben, und ich werde wieder sagen: „Nimm mich wieder, geliebte Seele, auch ich bin selig“ – alle irdischen Wunden werden verschwinden, der Zirkel der Ewigkeit wird uns umfassen und verbinden!... Ach, wir müssen uns ja erst trennen, und dieses Leben währet noch – – lebe länger als ich, weine weniger als ich und – vergiß mich doch nicht gänzlich. – Ach hast du mich denn sehr geliebt, du Teure, du Verscherzte?...

Das klingt fast so, als würde Gustav sich – ohne dass er's allzu bewusst wahrnähme – noch eine minimale Hoffnung auf eine irdische Versöhnung machen: versteckt in vieldeutigen Vokabeln, die man nicht deshalb doppeldeutig nennen sollte, weil im Mitleid, das da provoziert werden könnte, die Aussicht auf eine Verzeihung steckt, die eben nicht transzendental ist. Vorderhand nehmen wir an, dass Gustav wirklich verzweifelt ist.

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