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01.07.2014, 09:30 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [429]: Man feiert den Todestag der Jahreszeiten

Gustav fühlt, dass er eine Seele braucht – und diese Seele ist im Moment in der Person Ottomars erreichbar:

O was sind die Stunden der seelenverwandtesten Lektüre, selbst die Stunden der einsamen Emporhebung, gegen eine Stunde, wo eine große Seele lebendig auf dich wirkt und durch ihre Gegenwart deine Seele und deine Ideale verdoppelt und deine Gedanken verkörpert?

Wie wahr.

Und also geht Gustav zu ihm hin, zu ihm, dem Freund, zu ihm auf das Ottomarsche Schloss. Hier sieht er nun etwas schlichtweg Merk-Würdiges: Ein Schloss. besitzt einen Schlossgarten, am Eingang dieses Gartens steht nun ein Knabe, der die erhabene Melodie eines erhabenen Lieds auf einer Drehorgel dem Gehör eines Kanarienvogels vordrehte, der sie singen lernen sollte. Der Erzähler zitiert dann den Beginn dieses Liedes, das er bei Herder gefunden hat, wo es korrekt so beginnt:

Traurig ein Wandrer saß am Bach,
Sah den fliehenden Wellen nach,
Ein welker Kranz umwand sein Haupt.
„Was blickst du, Wandrer, mattumlaubt,
So traurig nieder?“

Jüngling, den Bach der Zeit hinab
Schau ich, in das Wellengrab
Des Lebens; hier versank es, goss
Zwo kleine Wogen, da zerfloss
Die dritte Woge.

Als wäre das nicht nachtseitig genug, bemerkt er einen alten Gärtner, bei dem ihm besonders auffällt, dass so ein alter vernünftiger Mann ein Kindergärtchen auf dem Schoße hatte und besah – und drittens sieht Gustav nun an einer Sonnenuhr eine Erhöhung wie ein Kindergrab und einen Regenbogen von Blumen, der es umblühte und überlaubte; auf der Erhöhung lagen die Kleider eines Kindes so geordnet, als wär' etwas darin und hätte sie an.

Was soll das? Ottomar erklärt es ihm: der alte Mann feiere den Todestag aller Jahrszeiten, und heute wäre des Nachsommers seiner.

Der Blogger kennt ein derartiges Kleider-Arrangement. Es entstand nicht im Kopf eines Künstlers, sondern eines Schizophrenen.

Man sieht doch immer wieder, dass Jean Paul zu den Erfindern eines äußerst surrealistischen Realismus – oder soll man sagen: eines realistischen Surrealismus? – gehörte.

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