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11.06.2014, 11:15 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [423]: Im Reich der Wittelsbacher

Alle sind da, sogar der Maler, der die Jungfrau mit Kind konterfeit, die über allen schwebt: als Patrona Bavariae – nur der Dichter fehlt. Wo ist der Poet, der das Idyll des Lebens im bayerischen Voralpenland zu schildern wüsste?

Selbst und gerade der, der nach Dießen, also an den Ammersee reist – den Jean Paul 1820 nicht besuchte – kann hier allenthalben auf Spuren des Dichters wandern: vorausgesetzt, er ließe sich auf das Spiel ein, die Zeit des Dichters nicht allein in Schwarzenbach an der Saale und in Hof, sondern auch im Reich der Wittelsbacher zu suchen. Man muss nur manchmal ein bisschen aufschauen: etwa zur Lüftlmalerei, die uns einen Epochenschnitt bietet. Von der Renaissance über die frühe Jean-Paul-Zeit, in der noch der Zopf dransaß (den sich der junge Student abschnitt), ins sogenannte Biedermeier, dessen Anfänge Jean Paul noch in Bayreuth mitbekam. Der Logenleser muss sofort an den Dr. Fenk denken, der unter einem Hut für 11/2 Ld'or einen schimpflichen Zopf aufgehangen hatte, den er für nicht mehr erstanden als für drei hiesige Sechser – ein geschmackloser Krebsschwanz des Kopfes.

Mit der Loge sollte Jean Paul der Welt auch literarisch zeigen, wie man überflüssige Zöpfe abschneidet.

Das schöne Haus mit dem stattlichen Steilsatteldachbau mit Aufzugsöffnungen und Putzgliederung (wie es fachmännisch heißt), wurde 1738, als Jean Pauls Papa gerade 10 Jahre alt war, in der Herrenstraße 6 errichtet. Es war ursprünglich ein Gebäude, dessen einstige Nutzung dem Dichter als Biertrinker wesentlich mehr zugesagt haben muss als die heutige. Damals war es ein Brauereigasthaus, heute könnte sich Jean Paul hier modisch einkleiden – was ihn ebenso wenig interessieren würde wie das Tragen eines Zopfes.

Auch über diesem Haus waltet die Madonna, auch ein Engelspaar – womit wir bei einer zentralen Gestalt, vielleicht sogar bei zwei wichtigen Figuren der Unsichtbaren Loge angekommen sind.

Ist er nicht absolut hinreißend, der Engel in der Taufkapelle des Marienmünsters, der vermutlich von Johann Baptist Straub – nein: dem großen Johann Baptist Straub, dem Meister des Münchner Rokoko, dem unverkennbaren Lehrer Ignaz Günthers geschaffen wurde? Repräsentiert er nicht, um eine Generation nach hinten versetzt, einen idealen schönen Genius?

Über seinem schwärmerischen trunknen Auge glättete sich eine ruhvolle schuldlose Stirne, die das vierzigste Jahr ebenso unrastriert und ungerunzelt ließ wie das vierzehnte. Er trug ein Herz, welches Laster, wie Gifte Edelsteine, zerbrochen hätten; schon ein fremdes von Sünden durchackertes oder angesäetes Gesicht beklemmte schwül seine Brust, und sein Inneres erblasste vor dastehenden Schmutzseelen, wie der Saphir an dem Finger eines Unkeuschen seinen Blauglanz verlieren soll. Als Beschützer des anderen Engels – des kleinen Gustav – waltete der schöne Genius über den Kleinen und bog jeden knospenden Zweig desselben zur hohen Menschengestalt empor. Der Genius glaubte übrigens, beim ersten Sakramente (der Taufe) gehe die Bildung des Herzens an, beim zweiten (Abendmahl) die des Kopfes. Kein Wunder also, dass wir seine auch äußerlich schöne Gestalt in einer Taufkapelle finden – und dass er berufen ist, Gustav auf seine Auferstehung vorzubereiten.

Und er entschwindet uns, vielleicht auf ewig: Wo werden wir dich wiedersehen, unbekannter schöner Schwärmer?

Seltsam – muss die Literatur von irgendetwas gereinigt werden, nur weil es sich um eine katholische Bücherei handelt? Nur, weil sie dort vermutlich keine Jean-Paul-Ausgabe zu stehen haben?

Benannt wurde die Leihbibliothek namens Albert-Teuto-Bücherei übrigens nach einem nicht ganz uninteressanten Autor: nach dem bayerischen Geschichtsschreiber und Pastoraltheologen Albert von Dießen, der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts „wirkte“, wie man so schön sagt: als Augustiner-Chorherr von St. Marien in Dießen. Die Deutsche Biographie bezeichnet den schreibenden Kleriker als „schreibfreudigen und belesenen Kompilator“; 1365 beendete er, was für die Dießener Historiographie von Bedeutung ist, sein Epitaphium praelatorum, also eine Chronik der Dießener Pröpste. Ein Speculum clericorum (eine Sammlung kirchenrechtlicher und liturgischer Stücke für Seelsorger), Eintragungen im Andechser Missale (zu finden in der Bayerischen Staatsbibliothek), eine Gründungsgeschichte Dießens, an der er mitwerkelte: diese Werke bezeugen seine Verbundenheit mit dem Ort, an dem das Marienmünster so gut an ihn wie an einen Dichter erinnert, der sich noch über 400 Jahre später für jene Wesen interessierte, die nominell vom Himmel kommen und auf der Erde wirken: für andere Engel, die es schwerer haben als sie selbst.

Fotos: Frank Piontek, 7.6. 2014

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