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14.04.2014, 09:49 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [392]: Nein, es macht keinen Spaß, aufgeklärt zu sein

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Detail des Schwarzenbacher Grabsteins von Jean Pauls Vater

Jean Paul hat die zweite Hälfte des Romans in größter Geschwindigkeit niedergeschrieben, was man, so lese ich, an den gelegentlichen Flüchtigkeitsfehlern, die vom ersten Setzer, geschweige denn vom Lektor, übersehen wurden. Geschenkt! Wenn der Blogger in diesem Eiltempo derart dichte Absätze erfinden könnte, wäre er glücklich – aber wie unglücklich – oder glücklich? – muss jemand sein, der so etwas zustande bringt?

Das war die Orgel über mir. Ich ging zu ihr wie zu einer löschenden Quelle hinauf. Und als ich mit ihren großen Tönen die nächtliche Kirche und die tauben Toten erschütterte und als der alte Staub um mich flog, der auf ihren stummen Lippen bisher gelegen war: so zogen alle vergängliche Menschen, die ich geliebt hatte, nebst ihren vergänglichen Szenen vorüber, du kamest und Mailand und das stille Land; ich erzählte ihnen mit Orgeltönen, was zu einer bloßen Erzählung geworden war, ich liebte sie alle im Fluge des Lebens noch einmal und wollte vor Liebe an ihnen sterben und in ihre Hand meine Seele drücken – aber nur Holztasten waren unter meiner drückenden Hand. – Ich schlug immer wenigere Töne an, die um mich wie ein ziehender Strudel gingen – endlich legt' ich das Choralbuch auf einen tiefen Ton und zog die Bälge in einem fort, um nicht den stummen Zwischenraum zwischen den Tönen auszustehen – ein summender Ton strömte fort, wie wenn er hinter den Flügeln der Zeit nachgingen er trug alle meine Erinnerungen und Hoffnungen und in seinen Wellen schwamm mein schlagendes Herz.... Von jeher machte ein fortbebender Ton mich traurig.

Ottomar hat sich in seiner Gruft inzwischen eine Wirklichkeit erarbeitet, die mit dem Adlerblick für das Wesentliche die Zeit betrachtet, in der die drei Augenblicke von Geburt, Leben und Sterben zu einem einzigen zusammenzurinnen scheinen. Nein, es macht keinen Spaß, aufgeklärt zu sein. Was hilft gegen die Erkenntnistrauer? Vielleicht die Musik? Am Ende des vorigen Eintrags haben wir in das Auge des treuen Hundes geblickt und haben beobachtet, dass sich Ottomar nach etwas sehnt, womit er die Tränen vermehrt und stillt. Wer diese paradoxe Formel für eine typisch jeanpaulsche Eingebung hält, die per se überspannt ist, weiß vermutlich nichts von der paradoxen Macht der Musik – aber was am Ende des Spiels zu bleiben scheint, ist ein Ton, der traurig macht.... Die Szene hat etwas Unentschiedenes, die Klänge und die Erinnerungen und die Sehnsucht schweifen ins Ungefähre. Das ist in Ordnung; über die Musik lässt sich so wenig Konkretes sagen wie über die Einbrüche, die mit der Erkenntnis des Todes einhergehen. Was einzig eindeutig ist, sind die Tränen – aber gerade sie können uns nicht sagen, was wir in Worte bringen könnten.

Dass der Blogger gestern Marina Abramovics prinzipiell unbeschreibliche – und unbeschreiblich bewegende – Performance The artist is present, die 2010 im MOMA stattfand, gesehen hat, passt insofern sehr gut zum Thema.

Auch Victor Hugo hat es gewusst:

Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.

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