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14.12.2013, 20:12 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [302]: Mattigkeit, geprägte Seelen und innere Landschaftsstücke

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Wundert sich mit dem Blogger: „Mädchen am Fenster“ von Nicolaes Maes

Gustav schweigt, das scheint sein bestes Teil. Er ist endlich auf der Party angelangt, fühlt sich verwirrt und hat das Glück, mit Beata unter einen Fensterbogen zu gelangen – allein, nachdem sich die Residentin (natürlich scherzend) entfernt hat. Dass er heute nicht mit dem Pinsel gekommen sei – dieser matte Witz, der nicht einmal dann besser würde, wenn man ihn zweideutig-eindeutig ins Derbsexuelle zöge (welch Absicht bei Jean Paul sehr unwahrscheinlich ist), gibt Beata die Gelegenheit, etwas ebenso Mattes zu sagen: „Wenn Sie mich nicht schon entschuldigt haben, so kann ich mich nicht entschuldigen.“ Müsste das nicht Gustav sagen?

Seltsame Stelle.

Nein – denn es soll Gustav sein, der jetzt zu einem kräftigen „Nein“ hätte ansetzen müssen. Für die Mattigkeit aber entschädigt folgende Bemerkung:

An einer Menge schwerer Materien, wovon euch alle Handhaben abbrechen, hält bloß die des Scherzes fest, und ihr könnt sie damit regieren; besonders wenn ihr mit Mädchen unter Fensterbögen sprecht.

Dem Mädchen unter den Fensterbögen kann Gustav bezeichnenderweise nur entsprechen, wenn es um Natur, nicht um Kultur/Gesellschaft/Party geht, ja: Natur-Schönheit ist, sagt der Erzähler, das Einzige, was ihn zum Reden animiert. Es ist nicht der Raum, sondern der Raum vor dem Raum, der Park also im Abend, der ihn plötzlich sprudeln lässt. Jean Paul konzentriert dieses Sprechen sogar noch, indem er bemerkt, dass Gustav „alle Weltreize in einen Morgen zusammendrängt“, als er seine „Auferstehung“ beschreibt – was nun wieder merkwürdig ist, da dieses Heraufholen aus der Unterwelt ins „Weltgebäude“ ja an einem Morgen geschah.

Seltsame Stelle.

Egal – denn die folgende Periode ist wieder so jeanpaulesk, dass sie die Seltsamkeit entschuldigt:

Auf jedes Wort und Bild, das er sagte, oder sie zurückgab, war eine Seele geprägt, die sie einander zugetrauet hatten. Plötzlich schwieg er mit weiten glänzenden Augen – ihm war, als gehe in seiner Seele ein Zauber-Mond auf und scheine über ein weites dämmerndes Land und ein Engel seiner Kindheit steh' im Blütenlande und nehm' ihn in seine Arme und drück' ihn so an sich, dass das Herz an ihm zerflösse....

Da ist alles Herz, Gefühl, Sentiment. Da finden sich zwei empfindsame Geister im Reich der Natur – die Frage, sie ist bang, bleibt nur, ob diese Naturbegeisterung nicht über jene Widersprüche hinwegtäuscht, die Gustavs ganzes Wesen im Verhältnis zur „Gesellschaft“ auszeichnen. Die Frage bleibt, ob sich Beata und Gustav hier nicht beide etwas vormachen, indem das, was Identität ihrer „Seelen“ sein soll, nur zeitweise über sein Unvermögen hinwegtäuscht, jemals eine „normale“, also diskursiv tragfähige Beziehung führen zu können.

Ahnt der Erzähler das? Zumindest sucht er nach dem Grund für Gustavs plötzliche, wortkaskadenprovozierende Begeisterung:

Und worauf ruhte dieses innere Landschaftstück? – Worauf das berühmte Straßburger Uhrwerk ruht – auf einem Tierhals: dieses liegt nämlich auf einem Pegasus-Nacken; seines trugen die Hälse des zufällig vor dem Schlosse heimgehenden Weideviehs, an denen solche Glocken hingen, die denen der Herde Reginens ähnlich klangen und die mithin die ganze Jugendszene mit ihren Tönen wieder in seine Seele setzten....

Womit das Künstliche seiner Begeisterung so gut umschrieben wird wie das Natürliche.

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