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10.12.2013, 11:50 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [298]: Die Mischung macht´s

Muss man sich darüber wundern, dass Gustav nicht gesellschaftsfähig ist?

Die Jugendgeschichte Gustavs erklärt sofort, wieso er nicht in der Lage ist, am Hof diskursiv mitzuhalten. Wenn der Erzähler erläutert, dass seine innere Welt von der äußeren getrennt und seine Seele in seinen „Gehirn-Weltglobus eingesperret“ ist, deutet er an – ohne es wohl selbst zu wissen –, dass die Ursache für diese Trennung in Gustavs jahrelanger unterirdischer wie eingeschlossener Höhlen-Existenz begründet liegt. Die Objekte der äußeren Anschauung, sagt „Jean Paul“, würden nur „dünne Schatten“ auf die „Gedanken-Auen“ werfen: „sie sieht also die äußere Welt nur dann, wenn sie sich ihrer erinnert“.

Kann man dieses Missverhältnis nicht aus der Tatsache erklären, dass Gustav acht prägende Jahre lang immer nur denselben Raum um sich hatte? Dass er also nicht das geringste Interesse daran haben konnte, irgendetwas Äußerliches zu entdecken, weil er immer nur das Altbekannte sehen konnte? Weil er gar nicht annehmen konnte, dass es etwas gab, was außerhalb seiner Anschauung lag? Musste er sich nicht automatisch und autistisch auf seine Innenwelt fixieren? Unabhängig von der Tatsache, dass er mit Genius und Hund Kontakt hatte? Die aber auch immer dieselben waren, also irgendwann keinen neuen, äußeren Reiz mehr darstellten, eine Außenwelt zu erkunden? Das physiologische Modell nach Descartes zeigt, wie sensible Reize (das, was man sieht) von den Nerven in das Gehirn geleitet werden. Von dort gelangt die umgewandelte Information wieder über Nerven an die Erfolgsorgane (die Muskeln). Normalerweise funktioniert diese Leitung – bei Gustav wurde eine andere Leitung zwischen Außen und Innen beschädigt: die sogenannte seelische.

Woran liegt das? Seien wir ehrlich: Ist die nicht die groteske wie fürchterliche Höhlenerziehung daran schuld, dass Gustav ein Gesellschaftskrüppel ist? Dass sich die äußere Welt in seine innere „verwandelt“ ist kein Trost: diese „Verwandlung“ äußert sich in einer geistigen Abwesenheit von der jeweiligen Gegenwart, die der Erzähler nicht per se schlecht findet. Auch er ist der Meinung, dass die geistesgegenwärtigen „Kaskaden des Witzes“, über die der Hofmann verfügt, unnatürlich sind, dass also – er sagt das nicht deutlich, meint es aber implizit – Gustavs Geisteslangsamkeit die bessere Alternative zum oberflächlichen, im wahrsten Sinn des Wortes oberflächlichen Hoftreiben ist.

Dass Gustav in Wahrheit das Opfer eines fehlgeschlagenen Experiments ist: das vermag er sich nicht einzugestehen. Eher bestätigt er Gustavs defizitäre Innenkonzentration, indem er selbst gerne vor Gesellschafts-„Vergnügungen“ „unter den großen blauen Himmel“ und danach unter seine „kolossalischen Sterne“ geht, wo „der große die Eindrücke des kleinen verhütet und verlöscht“. Dass Gustavs Probleme hausgemacht sind, kommt ihm, dem großen Psychologen, nicht in den Sinn. Dabei ist Gustavs Versagen nur die umgekehrte Medaille einer Welt, die aufs glänzend Äußerliche schaut – die totale Innensicht ist ebenso dumm, weil gesellschaftlich und aktionsmäßig irrelevant. Um auf Gustavs Problem zu kommen, muss man nicht einmal Materialist oder linker Revolutionär sein. Man muss nur seinen Verstand einschalten, um zu bemerken, dass Gustavs Problem hausgemacht ist – und dass diesem Hausgemachtem von Anfang an der Wurm innewohnte. Frei nach Goethe: die religiöse Mutter und der idealistische Genius waren von jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft: Gustavs seelisches und gesellschaftliches Unvermögen, sein Versagen, seine psychischen Probleme.

Ich möchte das nicht für Jean Pauls Ideal halten.

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