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08.12.2013, 13:23 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [296]: Die Frauen, ein weiteres Mal

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Stahl

Frei nach „Shakespeare“[1]: Anthropologie, Jean Paul! Anthropologie! Denn der Dichter steigt wieder sehr hoch ein in den nächsten Sektor, den er als abscheulich und schwer klassifiziert; wir wollen sehen, ob dies wirklich zutrifft, da er im Hemd wie ein Hammerschmied arbeiten muss, um ihn zu zwingen. Und also lesen wir eine anthropologisch-psychologische Betrachtung, die es in sich hat:

Eine Frau lebt mehr außer als in sich, ihre fühlende Schnecken-Seele legt sich fast außen um ihre bunte Körper-Konchylie an, sie zieht ihre Fühlfäden und Fühlhörner nie in sich zurück, sondern betastet damit jedes Lüftchen und krümmt sie um jedes Blättchen – mit drei Worten: das Gefühl, das der Arzt Stahl der Seele von der ganzen Beschaffenheit ihres Körpers zuschreibt, ist bei ihr so lebendig, da sie in einem fort fühlt, wie sie sitzt und steht, wie das leichteste Band aufliegt, welchen Zirkelbogen die gekrümmte Hutfeder beschreibt – mit zwei Worten: ihre Seele fühlt nicht nur den Tonus aller empfindlichen Teile des Körpers, sondern auch den der unempfindlichen, der Haare und der Kleider – mit einem Worte: ihre innere Welt ist nur ein Weltteil, ein Abdruck der äußern.

Stahl? „Sein umfangreiches Werk ist in teilweise unverständlicher Weise formuliert, was eine weitreichende Rezeption verhinderte“, lese ich an der bekannten Stelle. Der Mann – übrigens ein gebürtiger Franke, ein Kind aus Ansbach – vertrat seine Theorien in 240 Publikationen; Jean Paul bezieht sich bei obiger auf eine Idee aus der Theoria medica vera physiologiam et pathologiam tamquam doctrinae medicae partes vere contemplativas e natura et artis veris fundamentis intaminata ratione et inconcussa experientia sistens, einem dreibändigen Werk, das 1707 in Halle herauskam. Später, 1715 nämlich, wurde er zum Leibarzt des „Soldatenkönigs“[2] ernannt, des Herrn Papas der Bayreuther Markgräfin, in deren Residenzstadt der Dichter später zog. Man mag nun lächeln über die Theorien, die von der Zeit, d.h. den nachfolgenden Chemikern, Physikern und Physiologen revidiert und erledigt wurden – aber sein Ansatz, dass der Körper mehr ist als eine Ansammlung von unabhängig funktionierenden oder ausfallenden Teilen, ist interessant, indem hier noch die Humoralpathologie der Antike, des Mittelalters und der Renaissance für ein ganzheitliches psychosomatisches Modell genutzt wird, das den Menschen letzten Endes adelt. Die Seele, meinte er, war der Ursprung aller unserer Bewegungen; sie allein garantierte die Einheit des Körpers. Von „Seele“ würde heute kein Physiologe mehr sprechen, aber wenn einmal dieser Begriff in die Debatte geworfen wird, ist klar, was gemeint ist: Der Mensch ist mehr als pure Physiologie.

Wenn Jean Paul Stahls Seelenthese nimmt und sie gegen die Frauen wendet, ist das natürlich gemein – aber ich vermute, dass sich hier eine in jeanpaulschem Sinne – es ist ein Sinn des wissenshungrigen Dilettanten – begründete Pathologie mit dem Drang verbindet, über „die Weiber“ partout Witze machen zu müssen, die am besten mit wissenschaftlichen Theorien ausgestattet werden. In diesem Sinne war er wohl kein Stahlianer:

Der wissenschaftliche Charakter Stahl’s ist ein tiefernster, in jeder Beziehung ehrenhafter; durchdrungen von dem Bewusstsein, die Erkenntnis der Wahrheit als einziges Ziel der Forschung zu betrachten.[3]

Und wieso kommt „Jean Paul“ auf diese krude These? Weil Gustav keine Frau ist und sich folgendermaßen verhält:

Eh' er in eine große Gesellschaft ging, wußt' er Wort für Wort, was er sagen wollte; kam er wieder heraus, so wußt' er (in der Kulisse) auch, was er hätte sagen sollen – aber gesagt hatt' er darin weiter nichts.

Woraus ich schließe, dass Frauen immer etwas zu sagen haben.

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[1] Die Kenner, die sich für das sog. Shakespeare-Jahr rüsten, wissen, was gemeint ist.

[2] Eines furchtbaren Cholerikers und drittklassigen Malers – der seine Armee indes niemals in einen Krieg schickte. Vielleicht hatte er ja zuviel Stahlsches Phlogiston in sich.

[3] Heißt es 1893 in der ADB.

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