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18.10.2013, 08:00 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [255]: Jean Paul als Psychologe hohen Ranges, wieder einmal

SIE umgarnt ihn, und ER lässt sich darauf ein, ja, er lässt sich so sehr darauf ein, dass er fast eine Dummheit begeht, indem er eine sagt. Jean Paul erweist sich wieder einmal als Psychologe hohen Ranges, wenn er folgende Situation beschreibt: Ihm weismachend, dass er bessere Porträts als Landschaften zeichnen könne (das geht auf die Venus; „Jean Paul“ meint, dass das Gegenteil der Fall sei, aber es könnte sein, dass er sich irrt, denn er, Jean Paul, kann ja beides vollkommen), weist sie ihn auf ein mögliches Zeichensujet hin: „Versuchen Sie es“, fuhr sie fort, „mit einem lebendigen Original“ – er schien verlegen über die Absicht ihres Rats – „nehmen Sie eines, das Ihnen so lange sitzt, als der Maler selber sitzt.“ [...] „Hier! das darin mein' ich“ – und sie wies auf einen Spiegel; jetzt wollt' er doch mit der palingenesierten Höflichkeit herausfahren, ihre Gestalt sei über seinem Pinsel, als sie zum Glück dazufügte – „Malen Sie sich und zeigen Sie mirs.“ – Über eine zufällig verschluckte Sottise wird man ebenso rot wie über eine herausgestoßene – du schöner, rotglühender Gustav!

Gustav ist das Peinliche dieser Situation bewusst, weil er sieht, dass er eine Grenze überschritten hat – aber könnte es nicht sein, dass die schöne Frau eben diese peinliche Situation provozieren wollte? Der Text gibt darüber keine Auskunft, aber die Situation hat etwas derart Verfängliches, dass die Unsicherheit des welt- und frau-unerfahrenen jungen Mannes und die Selbstverständlichkeit darin aufgehoben sind: die Selbstverständlichkeit, dass ein junger Mann zu Missverständnissen neigt, über die nicht zu rechten ist (wer hat das noch nicht erlebt?). Unbenommen bleibt schließlich die Verführungskraft der schönen Frau.

Was übrig bleibt, sind zwei Aparts des Erzählers: „Oefels Eitelkeit mit [er meint nicht „und“, wie ich zunächst nach einiger Überlegung meinte – aber hier wie dort hilft genaue die genaue Lektüre dem anfänglichen Unverständnis auf die Sprünge][1] Gustavs Voreiligkeit hätten hier eine dumme Höflichkeit zusammenbringen können“ und: „Leuten, die euch[2] eine Erklärung geben wollen, eine in den Mund zu legen, ist ebenso unhöflich als misslich.“

Das ist sehr kategorisch ausgedrückt. Er hätte auch schreiben können: Wenn der Kuchen redet, haben die Krümel zu schweigen. Wenn aber das Leut eine verführerische, verführende Venus Junonis ist – was soll das Kind da machen? Es kann – auch verbal – nur kapitulieren.

Eine schöne junge Frau der mittleren Jean-Paul-Zeit, zeichnend (wie unser Eleve Gustav). Gemalt wurde das Meisterwerk im Jahre 1801, man kann es (oder besser: sie) im Metropolitan Museum bewundern, diesem Schatzhaus der Künste und Kulturen. Wen zeigt es? Möglicherweise die Malerin des Bildes selbst, also Marie-Denise Villers, die 1801 27 Jahre alt war. Genau so jung stelle ich mir die Residentin vor. „Villers was a gifted pupil of Anne Louis Girodet-Trioson (1767–1824) and exhibited in the Salons, where her portraits attracted attention“, lese ich auf der Seite metmuseum.org. „...attracted attention“: ich wundere mich nicht. Seltsamerweise aber trägt dieses Bild, das erst 1996 der Marie-Denise Villers zugeschrieben wurde, den Titel „Madame Charlotte du Val d'Ognes“. Außerdem taucht ein zweiter Name in der Zuschreibungsgeschichte auf: der der Malerin Constance Marie Charpentier. Die sachlichste Beschreibung lautet: Étude d’une jeune femme assise sur une fenêtre.

Vor einiger Zeit hat die Künstlerin Emily Kiel in einem schönen Selbstporträt-Projekt, in dem sie klassische Motive nachstellte, sich selbst als eben diese junge, zeichnende Frau ins fotografische Bild gesetzt. Wer will, kann mit ihr das Foto einer Frau der Jean-Paul-Zeit entdecken.

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[1] Warum der Blogger diese Einschaltung nicht in den Neben-, sondern in den Haupttext gesetzt hat? Damit man sie lese. Stolpern gehört zum Handwerk.

[2] Er meint „Kinder, die noch nicht auf Winterbällen getanzt“ - aber wer von denen liest schon diesen Roman?

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