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18.08.2013, 09:10 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [230]: Die Weltläufte sind nicht aufzuhalten

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Einszweidrei im Sauseschritt / läuft die Zeit; wir laufen mit.

Ja, die Zeit... Nicht nur Wilhelm Busch hat ihr, im köstlichen Julchen[1], Raum eingeräumt. Er stellt sie folgendermaßen dar:

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Er nennt das: verrollte Zeitpunkte. Die Sonne steht meinem Gesichte gegenüber, sagt er, während er, der Schreiber, unter sich den Schulmeister hämmern hört.

Wie sieht es bei Herrn Wutz aus? Armselig – denn er führt in seinem Hause nicht drei gescheite Stühle, keine Fenstervorhänge und Hautelisse-Tapeten. Hautelisse? Da muss man wieder nachschlagen, denn der Kommentar verlässt uns hier. Im Brockhaus von 1809 entdeckt man die Definition, derzufolge ist Hautelisse

eine Art von Gewebe oder Tapete, aus Seide und Wolle gewürkt, welche auch bisweilen mit Gold und Silber erhöht ist, und verschiedene Figuren von Menschen, Thieren, Landschaften etc. vorstellt. Es ist dies eine der ältesten Manufakturen, welche in Europa bekannt geworden; sie wurden nachher in Frankreich unter Ludwig XIV. durch trefliche Zeichnung verschönert, und auch in Deutschland, Rußland etc. eingeführt.

Man theilt diese Tapeten in Haute-lisse und Basse-lisse ein, wovon jedoch der Unterschied blos in den Rahmen liegt, auf welchen sie gearbeitet werden. Der Nahmen zu der Basse-lisse nemlich liegt flach, daher sie auch tiefschäftig heißen; hingegen der zur Haute-lisse (auch hochschäftige Tapete genannt) liegt perpendicular, gerade in die Höhe aufgerichtet.

Jetzt wissen wir es genau: Wutzens Wohnung ist so beschaffen, wie wir es – wir kennen ja den berühmten Anhang der Unsichtbaren Loge – vermutet haben. Selbst der Ofen ist zu nichts Rechtem zu gebrauchen – nur zu einem literaturkritischen Vergleich und einem bangen Blick in die Zukunft, in der der Erde die Ressourcen ausgehen:

Auf dem vierschrötigen Ofen können drei Paare tanzen, die er wie die jetzigen Tragödien trotz der unförmlichen Zurüstung und Breite schlecht erwärmen würde. Es muss beiläufig noch zu Hand- und Taschenöfen kommen, wenn man einmal aus den Bergwerken statt der Metalle das Holz, womit man sie jetzt ausfüttert, wird holen müssen....

Die vier Punkte mögen die verrollende Zeit der Welt symbolisieren, welche sich langsam, aber sehr sicher aufbraucht. Wie es in „Shakespeares“ großartig hellsichtigem Timon of Athens so richtig – und gleich zu Beginn – heißt. Der Dichter fragt da:

 Was macht die Welt?

Und der Maler antwortet:

Ihr Lauf, Sir, nutzt sie ab.

Oder besser, im Original:

How goes the world?

It wears, Sir, as ist grows.

1771 stach John Boydell – der berühmte Schöpfer der Shakespeare Gallery – diese Szene aus Timon von Athen – einem kurzen, doch faszinierenden Drama über einen Menschenfreund, der, hineingeworfen in den finanziellen Ruin, an der Untreue seiner „Freunde“ zum Menschenfeind wird. In seinem Shakespeare Blog hat Hank Whitemore 100 Gründe aufgeführt, die Edward de Vere, den Earl of Oxford, als Verfasser der Dramen und Sonette „Shakespeares“ belegen. Der 31. Grund besteht im Nachweis des extrem autobiographischen und „unkomfortablen“ Charakters dieses plays, wenn wir es mit dem Leben Edward de Veres vergleichen – ungeachtet aller möglichen literarischen Quellen[2]. George Steevens, dem wir einen vielzitierten Satz zur Problematik des shakespeareschen Lebenslaufs verdanken, hat eine wertvolle Edition mit den Graphiken Boydells herausgegeben.

William Beechey hat 1801 den Shakespeare-Illustrator als Künstlerkönig verewigt. Der Verleger George Steevens erscheint in einem etwas schlichteren Gewand – aber mit Jean Pauls Lieblingstier.

Nebenbei: Jean Paul kannte[3] den Timon. 1780 las er das Stück, die Exzerpteinträge wurden in den Sämtlichen Werken, Bd. II/1, S. 29, bereits ediert.

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[1] Und so sieht sie aus, unser Julchen:

[2] Anmerkung für Bayreuther: Obwohl Richard Wagner für seinen Ring des Nibelungen die altisländischen Sagatexte und Mythen fleißig verwertet hat, wäre die Entstehung der Tetralogie ohne die Revolution von 1848/49 niemals möglich gewesen. Wagners Musikdramen verdanken sich zugleich den mittelalterlichen Quellen und dem persönlichen Denken des Autors, das die Ideen der Zeit in sich aufgenommen hat: von Feuerbach über Schopenhauer zum Buddhismus. Jean Paul verfährt nicht anders, wenn er das Material nutzt, das ihm die Literatur bietet, und zugleich seine eigene Geistesgeschichte erzählt – zuweilen angereichert mit persönlichen Erlebnissen, die er wiederum in Literatur verwandelt (und verzaubert) hat.

[3] Der Blogger kennt das Stück seit dem 3. Mai 1991. damals gastierte die Produktion des Schauspielhauses Bochum in der Freien Volksbühne, wo der glückliche Zuschauer in Reihe 10, Platz 20, Frank-Patrick Steckels großartige Masken-Inszenierung bewundern konnte. Den Timon spielte der unvergessliche Peter Roggisch, der kurze Zeit später in der kleinen Bayreuther Studiobühne in einem Shakespeare-Programm auftrat. Peter Roggisch in der Studiobühne! Das waren noch Zeiten, wie der Nostalgiker sagt. Einszweidrei im Sauseschritt...

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