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26.03.2024, 09:30 Uhr
Katrin Hillgruber
Text & Debatte
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© Philipp Keel

Heute feiert das Schriftsteller-Phantom Patrick Süskind seinen 75. Geburtstag

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Frontcover der Diogenes-Taschenbuchausgabe (1994) des Romans „Das Parfum“ von Patrick Süskind, analog zur Original-Hardcover-Edition (1985) © Diogenes Verlag. – Der Ausschnitt zeigt ein Gemälde von Jean-Antoine Watteau, „Jupiter und Antiope“ von 1716.

Neun Jahre auf der Spiegel-Bestsellerliste – mehr muss man über den Schriftsteller Patrick Süskind und seinen Welterfolg Das Parfum eigentlich nicht sagen. Oder doch ein bisschen mehr. Der zurückgezogen lebende Autor feiert heute am 26. März seinen 75. Geburtstag. Mit einem lesenswerten Streifzug durch sein Werk ehrt ihn die Journalistin Katrin Hillgruber, die einen besonderen Bezug zu Süskinds Bruder hat.

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Im Allgemeinen sei das Gefieder der gemeinen Haustaube blaugrau, am Hals grünlich und rötlich metallisch schillernd. Diese Feststellung stammt von dem Autorenkollektiv Werner Heiligmann, Horst Janus und Helmut Länge aus dem ersten Band des Biologiebuchs Das Tier. Generationen bayerischer Schülerinnen und Schüler haben mit diesem Standardwerk gelernt, möglicherweise auch der am 26. März 1949 in Ambach am Ostufer des Starnberger Sees als zweiter Sohn der Sportlehrerin Annemarie und des Journalisten, Schriftstellers und Stilkritikers Wilhelm Emanuel geborene Patrick Süskind.

Seit 5.000 Jahren hält der Mensch die Körnerfresserin, die in mannigfachen Formen wie der Ringeltaube, Türkentaube oder possierlichen Turteltaube in Erscheinung tritt, als Haustier. Kein Grund zur Aufregung also, sollte man meinen, wenn sich ein bleigraues Exemplar der Columba domestica in einen Pariser Hausflur verirrt. Zumal der Vogel mit der an das Haushuhn gemahnenden Morphologie nicht wild mit den gestreiften Flügeln schlägt, sondern ruhig dasitzt und einen Wachmann beim morgendlichen Verlassen seiner Garçonniere anblickt.

Doch ein psychisch labiler Einzelgänger aus der Feder des Schriftstellers und Drehbuchautors Patrick Süskind ist einer solchen überraschenden Konfrontation mit der Fauna nicht gewachsen: „Es war ein Auge ohne Blick. Und es glotzte Jonathan an.“ Dann blinzelt die Taube, „und gleichzeitig schnappten zwei Lider über ihrem Auge zusammen, eines von unten, eines von oben, keine richtigen Lider eigentlich, sondern eher irgendwelche gummiartigen Klappen, die wie zwei aus dem Nichts entstandene Lippen das Auge verschluckten. Für einen Moment war es verschwunden. Und erst jetzt durchzuckte Jonathan der Schreck, jetzt sträubten sich seine Haare vor blankem Entsetzen. Mit einem Satz sprang er zurück ins Zimmer und schlug die Türe zu, eh noch das Auge der Taube sich wieder geöffnet hatte.“

In der Millisekunde eines Lidschlags gerät das Leben des ehemaligen Indochina-Kämpfers Jonathan Noel in Patrick Süskinds Erzählung Die Taube aus dem Jahr 1987 folgenschwer aus dem Takt. Der stoische Wachmann einer Bank übersieht die Limousine des Direktors, seine Hose reißt ein, aus Angst vor der Taube traut er sich nicht mehr nach Hause und weicht in ein Hotel aus. Vor allem aber ergeht er sich in einem übersprudelnden inneren Monolog der Ängste und Kümmernisse, dessen Lektüre einen Hochgenuss darstellt. Oder hat der Blick der Taube den Sohn deportierter französischer Juden, der im Kinderheim aufwuchs, retraumatisiert? Das lässt der kunstvoll handlungsarme Text, der sich ganz in der Imagination seines neurotischen Protagonisten abspielt, bis zum Schluss in der Schwebe.

Ein unsicherer Mann, der sich von einem gleichgültigen Gegenüber beobachtet fühlt: Dieses Konzept hatte sich für Patrick Süskind bereits 1981 mit seinem Einpersonenstück Der Kontrabaß [sic!] als Erfolgsrezept erwiesen. Der Monolog über das laut seinem Interpreten „zentrale Orchesterinstrument“ wurde in der Spielzeit 1984/85 mit 522 Aufführungen und 25 Inszenierungen zum meistgespielten Stück in Europa.

Als Protagonist der süddeutsch-barocken Exaltation, wie sie etwa Thomas Bernhard in Der Theatermacher auf die Spitze treibt, fand der österreichische Schauspieler Nikolaus Paryla mit dem Kontrabaß seine Paraderolle: „Ein Klavier ist ja ein Möbel. Ein Klavier können Sie zumachen und stehenlassen. Ihn nicht. Er steht immer herum wie… Ich habe einmal einen Onkel gehabt, der war ständig krank und hat sich ständig beklagt, dass keiner sich um ihn kümmert. So ist der Kontrabaß. Wenn Sie Gäste haben, spielt er sich sofort in den Vordergrund. Alles spricht nur noch über ihn. Wenn Sie mit einer Frau allein sein wollen, steht er dabei und überwacht das Ganze. Werden Sie intim – er schaut zu.“

Zwischen Kontrabaß und Taube gelang Patrick Süskind 1985 mit dem nicht minder genialisch schlichten Romantitel Das Parfum nicht nur zur Freude seines Zürcher Hausverlags Diogenes ein Welterfolg. Der 1738 in Paris geborene Parfümeur und Mörder Jean-Baptiste Grenouille hat selbst keinen Körpergeruch, tötet jedoch auf der Jagd nach immer neuen Duftnoten anmutige Frauen. Eine kaum überschaubare Sekundärliteratur ist zu diesem Roman erschienen. Er hielt sich neun Jahre auf der Spiegel-Bestsellerliste, wurde in 40 Sprachen übersetzt und 2006 von Tom Tykwer verfilmt, nachdem der Produzent Bernd Eichinger den Autor mühsam überredet hatte. Den hedonistischen Kraftmenschen Eichinger und sich selbst als skrupulösen Schriftsteller Jakob Windisch hat Süskind in Helmut Dietls Kinofilm Rossini oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief parodiert.

Seit dem Essay „Über Liebe und Tod“ 2006 hat Patrick Süskind nichts mehr veröffentlicht. 2016 übernahm seine Lebensgefährtin Tanja Graf die Leitung des Münchner Literaturhauses. Dort zeigte sie die Ausstellung „Der ewige Stenz – Helmut Dietl und sein München“, angeregt von Dietls Witwe Tamara und Grafs Vorgänger Reinhard Wittmann. Der passende Kurator war rasch gefunden: „FAS“-Feuilletonchef Claudius Seidl hatte Tamara Dietl gestanden, in Berlin sein Heimweh nach München mit dem nächtlichen Konsum von Dietl-Serien wie den  Münchner Geschichten oder Monaco Franze – der ewige Stenz zu stillen. Der Duden definiert Stenz als „selbstgefälligen, geckenhaften jungen Mann“. Mit Helmut Fischers Monaco Franze erreichte der Typus unbegrenzte Haltbarkeit.

Der Ausstellungsraum im Parterre wurde als Restaurant hergerichtet, mit einer langen festlichen Tafel in der Mitte und Besetzungslisten in Form von Menükarten. Im Hintergrund waren auf fünf Leinwänden Szenen aus Dietls Filmerzählungen zu sehen. Für Tanja Graf bot der Erinnerungsparcours in Schwarz-Weiß-Rot eine Möglichkeit, Literatur mit anderen Mitteln darzustellen, wie sie damals sagte: „Helmut Dietl hat ja viele Jahre seines Lebens, zumindest die Abende, im Romagna Antica in Schwabing verbracht. Dieses Lokal ließ er für Rossini mit einem klassischen Schachbrett-Boden nachbauen, dieses Ambiente haben unsere Ausstellungsmacher nachgeahmt: Weißgedeckte Tische, Kerzenlicht, schwarzweißer Boden und schwarze Typografie auf weißem Grund, aber das Bunte sind die Filme. Die Farben der achtziger Jahre können in ihrer ganzen Schönheit erblühen.“

Mit dem 2015 verstorbenen, stets in Weiß gekleideten Helmut Dietl war Patrick Süskind seit seinem Studium der Neueren Geschichte eng befreundet. Fünf Drehbücher schrieb er für ihn. Auch dem französischen Zeichner Jean-Jacques Sempé war er verbunden und übersetzte dessen Werke. Der vor zwei Jahren verstorbene Sempé wiederum illustrierte Patrick Süskinds autobiografisch inspiriertes Buch Die Geschichte von Herrn Sommer (1991).

Diskretion, Understatement und Eleganz: Diese Eigenschaften kennzeichneten ebenso Patrick Süskinds älteren Bruder Martin (1944-2009). Konnte der politische Trubel in der Bundeshauptstadt Bonn im Sommer des Jahres 1994, wie ihn die Verfasserin als Volontärin erlebte, noch so groß sein: Der Redaktionsleiter der Süddeutschen Zeitung Martin E. Süskind nahm sich eine Pfeife und schrieb in kürzester Zeit und doch in aller Ruhe eine makellose Reportage für die Seite Drei. Heute feiert Patrick Süskind seinen 75. Geburtstag – in aller Diskretion in München, am Starnberger See oder in seinem Domizil in Frankreich.