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„Wir gesucht! Eine Fahndung“. Von Dagmar Leupold

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Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Dagmar Leupold (*1955 in Niederlahnstein) studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie in Marburg, Tübingen und New York und lebt als freie Autorin in München. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Unter ihren zahlreichen Werken sind u.a. Byrons Feldbett (2001), Eden Plaza (2002), Nach den Kriegen (2004) und Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal (2009) zu nennen. Für ihr schriftstellerisches Werk hat Dagmar Leupold etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand (2013). Ihr Roman Die Witwen (2016) war zudem für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen ihre Romane Lavinia (2019) und Dagegen die Elefanten! (2022).

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Nach dem Wir wird also gesucht. Und dem Zusammenhalt. Eine gute Sache, eigentlich. Und doch beschleicht mich ein gewisses Unbehagen. Nicht nur, weil es die Sendeanstalten der ARD sind, aus denen in jüngster Zeit bestürzende Berichte über Korruption, Nepotismus und Gier sowie über großzügigste Regelungen bezüglich Ruhegelder und Abfindungen die Nachrichten- und Kommentarspalten füllten – Verhaltensweisen und Vertragsabschlüsse, die schwerlich als Beispiel für gelungenen Zusammenhalt oder als Aufforderung zu Selbigem herhalten können. Vielmehr stehen sie für eine immer ungenierter betriebene Praxis des me first, einer Ich-AG, die längst nicht mehr den Schritt ins selbstständige Unternehmertum anzeigt, sondern Metapher geworden ist für Selbstbezogenheit, für Ich-Flation. Die Wahrung des eigenen Vorteils und des eigenen Wohlbefindens hat grundsätzlich Vorrang, sie wird als Durchsetzungsfähigkeit, Stärke und Selbstbewusstsein gedeutet und mit gesellschaftlicher Anerkennung und erfolgreichem Aufstieg belohnt. Es ist sicherlich keine Entwicklung, die von allen Parteien und Lagern gewollt ist und begrüßt wird – wirksam (politisch) verhindert wird sie freilich nicht. Mit einem solchen Egozentrismus machen sich zahlreiche Bereiche gemein: Nicht nur Regierungen autokratischer Prägung, auch neoliberale Ideologen ermutigen zur robusten Wahrnehmung von Eigeninteressen. Die Werbung spielt dieselbe Karte aus – unterm Strich zähl' Ich, lautet beispielsweise der Slogan einer großen Bank –, und, rund um das Thema Selbstachtsamkeit, gedeiht eine rasant wachsende Coaching-Industrie.

Das Unbehagen wächst aber auch, weil es eine bemerkenswerte Zunahme rhetorisch aufgeladener Beschwörungen von Politikern in allen Ämtern, Funktionen und Parteien gibt, die von „Werten“ sprechen, als handele es sich dabei um eine unter allen Umständen – auch den korruptesten – kompatible und stabile Währung. Während in den Reden also die Werte und die „Stärken, die uns verbinden“ (so der Bundespräsident in seiner vor Kurzem gehaltenen Rede an die Nation) unter Hinweis auf existentielle Gewissheiten wie das Mensch- und Bürgersein, das schließlich alle teilen, gefeiert werden, hinkt die Realpolitik den großen Worten und Zusagen nicht nur hinterher, sondern ist immer wieder davon entkoppelt. Pragmatismus wird diese Asymmetrie genannt.

Dieselben Bürgerinnen und Bürger, von denen man in schönen Reden den Zusammenhalt erwartet, werden immer mal wieder als Sozialschmarotzer angeschwärzt, die die subventionierten Heizungen auf Höchsttemperatur drehen und sich mit dem Bürgergeld einen feinen Lenz machen. Problematisch an den Appellen ist auch, dass mit viel Schwung die weit offenen Türen derjenigen eingerannt werden, die seriöser Berichterstattung in Print- und anderen Medien vertrauen, keinen Verschwörungstheorien anheimfallen und (meist) von der derzeitigen Gemengelage – Krieg, Inflation, Pandemie – nicht existentiell bedroht sind. Es fällt zudem auf, dass in der politischen Metaphorik Begriffe aus der Mechanik vorherrschen: der Ruck, der Doppelwumms, die Bremse, die Stellschraube. Eine Rhetorik, die dröhnt, als trete man im Leerlauf das Gaspedal durch, der Motor heult auf, aber es bewegt sich nichts. Politische Konzepte für eine demokratische Gesellschaft müssen mehr sein als ein Maßnahmenkatalog, der in akuten Krisen Anleitung zur Ersten Hilfe gibt. Politische Konzepte sollten prozessual denken, von notwendiger Transformation ausgehen und eine Vision haben. Immer begleitet von einer kritischen Analyse der Malaisen unserer Gesellschaftsform, dem Finanzkapitalismus neoliberaler Prägung. Dann würde recht bald sichtbar, dass die beklagte Spaltung der Gesellschaft dem System selbst immanent, in ihm strukturell angelegt ist. Und es sich weniger um Spaltung handelt – das suggeriert, dass es die eine und die andere Seite gibt, es gibt aber zahlreiche Wirs und Ihrs –, sondern um eine Fragmentierung der Gesellschaft in unzählige Partikularinteressen und Lobbys zu deren Durchsetzung. Schlimm genug. Noch schlimmer ist, dass auch die Konzepte der Krisenbewältigung im Wettbewerb stehen, auch die Krisen bzw. die Krisenstrategen streiten um die Pole Position, anstatt auf einer gemeinsamen Basis die geteilten Zumutungen – Umweltzerstörung, Krieg, grenzen- und skrupelloses Gewinnstreben, Rassismus, Diskriminierungen aller Art – zu benennen und zu bekämpfen. Inwiefern Zusammenhalt erst entstehen kann, wenn man die Zusammenhänge und Ursachen für den Zerfall erkennt und benennt, lässt sich in Nancy Frasers hellsichtiger Studie Cannibal Capitalism nachlesen. Die „multidimensionale“ Krisenzeit, die sie diagnostiziert, ist nicht wie eine Naturkatastrophe über uns hereingebrochen, sondern wurzelt tief in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die alle Bereiche – Natur, Kultur, Politik und Soziales – als Ressourcen ausbeutet, dem Primat des Wachstums und Gewinns unterstellt und damit, langfristig, ihre eigenen Grundlagen kannibalisiert. Funktionierender Zusammenhalt kann allein dann entstehen, wenn sich das Bewusstsein durchsetzt, dass nicht nur die Welt medial und ökonomisch vernetzt ist, sondern auch die Krisen. Die Zukunft, für die freitags demonstriert wird, muss neben den ökologischen Forderungen auch die sozialen Fragen einschließen, ebenso wie das Engagement für eine gerechtere Gesellschaft mit echten Teilhabeoptionen für alle ihre Mitglieder die durch den Klimawandel entstandenen Nöte – überwiegend im Globalen Süden anzutreffen – mitdenken muss. Nancy Fraser spricht von der Notwendigkeit „gegenhegemonialer“ Bestrebungen, Krisen dürfen nicht in Rangfolgen sortiert werden, sondern müssen in ihrer wechselseitigen und globalen Bedingtheit erkannt und gemeinsam angegangen werden. Das ist unbequem, längst haben wir uns an ein statisches Konzept unversöhnlicher Standpunkte gewöhnt. Die Positionierung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen als Kontrahenten verschleiert, dass die großen Krisen gemeinsame systemische Ursachen haben, und verhindert erfolgreich einen wirkmächtigen Zusammenschluss der Akteure.

„Es braucht eine Gesellschaftstheorie, die diese verborgenen Bezüge offenlegt“, stellt Fraser im Interview bei Zeit Online im Mai letzten Jahres fest. Erst wenn sich nicht nur die Wissenschaftler und Philosophinnen, sondern auch die gewählten Politiker und Politikerinnen, die Parlamente und Regierungen dieser Analyse stellen und die notwendigen Veränderungsprozesse zur Rettung der Demokratie, des Planeten, des Gemeinwohls und der Care-Arbeit in politische Programme umsetzen, kann sich das flüchtige Wir, nach dem in der ARD-Themenwoche gefahndet wird, einstellen. Als Ergebnis dieses strukturellen Veränderungsprozesses, nicht als bestellte Lieferung frei Haus.