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12.07.2022, 16:44 Uhr
Johanna Mayer
Text & Debatte
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(c) Secession Verlag

Rezension zu Steven Uhlys neuem Roman „Die Summe des Ganzen“

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Juan García Martínez (1828-1895): "La penitente", Öl auf Leinwand, 1884

Steven Uhly (*1964 in Köln) studierte in Köln, Bonn und Lissabon Romanistik und Germanistik und promovierte als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes über Multipersonalität als Poetik. 2002 bis 2006 leitete er das Deutsche Institut der Bundesuniversität von Belém do Pará in Brasilien. Danach ließ er sich in München nieder, wo er auch heute als freier Autor arbeitet und lebt. Sein Roman Adams Fuge erhielt 2011 den Tukan-Preis der Stadt München, sein Roman Königreich der Dämmerung wurde vom Goethe Institut zu einem der 10 besten Bücher des Jahres 2014 gekürt. Inzwischen hat Steven Uhly acht Romane veröffentlicht. Sein neuester, Die Summe des Ganzen (2022), ist gerade im Secession Verlag, Berlin, erschienen. Johanna Mayer hat ihn für das Literaturportal Bayern gelesen.

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Gibt es Glaube ohne Kirche? Kirche ohne Glaube? Kann das eine überhaupt ohne das andere sein? Wer eine Antwort sucht, wird zumeist mit den erschreckenden Nachrichten der letzten Jahre konfrontiert, denn die Flut an Missbrauchsskandalen innerhalb der katholischen Kirche lässt nicht nach: Immer wieder gibt es neue Schlagzeilen, immer wieder treten Tausende Menschen aus der Kirche aus, angewidert und enttäuscht. Und immer steht die große, erdrückende Frage im Hintergrund, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Eine Frage, die der Münchner Schriftsteller Steven Uhly dem Leser in seinem neuen Roman Die Summe des Ganzen nicht nur näherbringt, sondern auf erschütternde und äußerst tiefgehende Art und Weise einprägt.

Auf den ersten Seiten ist von den Abgründen, die sich im Laufe des Buches wie die Hölle selbst öffnen werden, noch nicht viel zu merken. Padre Roque de Guzman, Pfarrer in Hortaleza, einem Außenbezirk vom Madrid der Gegenwart, sitzt wie jeden Tag zur selben Uhrzeit im Beichtstuhl, um den Sündern seiner Gemeinde die Absolution zu erteilen. Als er schon gehen will, betritt ein Fremder den Beichtstuhl. Doch schon nach einigen Worten springt er auf und verlässt die Kirche, unfähig dem Padre seine schwere Sünde mittzuteilen.

Doch in den nächsten Tagen kommt er zurück, nur kurze, aber äußerst ungewöhnliche Gespräche mit dem Padre führend, der immer neugieriger wird, was diesem Fremden auf der Seele liegt. Dabei drehen sich die Dialoge der beiden bald nur noch um Armando, den Nachhilfeschüler des Fremden, in dem der Padre ein außergewöhnlich schönes Gesangstalent aus seinem Knabenchor erkennt. Immer mehr Informationen gibt der Fremde preis, immer detailreicher werden seine Gefühlsbeschreibungen über die Sehnsucht nach dem Jungen. Und je länger die Gespräche andauern, desto besessener wird auch der Padre von den Fantasien, die der Fremde in ihm heraufbeschwört. Während er anfangs noch versucht sich gegen seine pädophilen Gedanken zu wehren, schwindet dieser Widerstand kurze Zeit darauf, bis er nur noch eines ist: eifersüchtig auf den Fremden, dem Armando sich angeblich viel mehr öffnet als ihm, und bereit, den Jungen gewaltsam dazu zu bringen, ihn zu „lieben“.

Das Drama nimmt seinen Lauf, als Armando nach einer Chorprobe nicht abgeholt wird und der Padre ihn kurzerhand „zum Beichten“ mit ins Pfarrhaus nimmt. In letzter Sekunde kann die Polizei das Schlimmste verhindern, gewarnt durch einen Unbekannten. Als der Fremde den Padre daraufhin im Gefängnis besucht, werden die eigentlichen Ausmaße – die Summe – des Ganzen für den Leser sichtbar. 

Steven Uhly hat mit Die Summe des Ganzen einen Roman geschaffen, der aktueller und aufrüttelnder nicht sein könnte. Was mit einem ungewöhnlichen Gespräch im Beichtstuhl beginnt, geht von Seite zu Seite immer mehr unter die Haut und erschüttert massiv:

Nach den Ritualen ging er [der Padre, Anm. d. Red.] nicht ins Viertel [...] sondern bereitete sich im Pfarrhaus schnell etwas Kaltes zu [...] um sich anschließend ins Bett zu legen und [...] weiter gierig, süchtig in den Bildern zu stöbern, die sein Geist wie von selbst heraufbeschwor, Bilder, die immer wagemutiger, immer dreister wurden, Bilder, die den Knaben zuerst halb entkleideten und schließlich gänzlich auszogen, wobei er auf frühere Knaben zurückgreifen musste, denn er hat Armando noch nie nackt gesehen. So geschickt stückelt er sich den Jungen zurecht [...].

Eine Handlung, die einen trotz allem nicht mehr loslässt, so klar, aufwühlend und spannend erzählt der Autor. Hierbei ist vor allem der Beginn des Romans eine einzige Verunsicherung: Lucas Hernandez, der eigentlich recht sympathisch wirkende Fremde im Beichtstuhl, ist offensichtlich in seinen zehnjährigen Nachhilfeschüler verliebt. Die Situation wirkt aussichtslos, die Gedanken von Lucas eindeutig:

Welch eine Situation! Welche eine Beichte! Eine Beichte, die etwas zum Gegenstand hat, was noch gar nicht geschehen ist, wovon er aber weiß, dass es unvermeidlich stattfinden wird. [...] Wie lange wird er in der Lage sein, das Unvermeidliche hinauszuzögern, bevor er zur Tat schreiten muss? Und dass er muss, dass er müssen wird, steht so fest wie nichts in seinem Leben. [...]

Erst zum Ende hin darf man aufatmen, als sich Lucas' Rolle dem Leser offenbart. Ein Doppelboden, der sich in seinen Gedankenbeschreibungen versteckt und in zwei verschiedene Richtungen führt. Der eigentliche Sinn der Worte – nicht die des Täters, sondern die des Opfers – fällt allerdings erst beim zweiten, dritten oder vierten Lesen auf.

Die Summe des Ganzen ist ein Roman, der verunsichert, erdrückt, aufdeckt, erzählt – und der uns doch nicht den Glauben verlieren lässt.

 

Steven Uhly: Die Summe des Ganzen. Roman. Secession Verlag, Berlin 2022, 156 S., geb. mit Lesebändchen, € 22,00.