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14.03.2013, 12:28 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [102]: Ein fläzender Dichter wird geküsst

„Hier küsste die 22jährige Karoline Mayer den wie sie zu einem Fest eingeladenen Schriftsteller.“ So sah es an dieser Stelle vor 100 Jahren aus, wo Jean Paul seiner Frau auf dem Sofa begegnete, um die Hebebühne zum gemeinsamen Ehebett zu besteigen – und so schaut man heute auf diesen Raum. Gleich geblieben ist fast nur die Straßenflucht. Das Ribbeckhaus, das vorn links auf der historischen Fotografie zu sehen ist, befindet sich auf der modernen Ansicht hinten rechts. Vorn rechts können wir uns hier vielleicht, bei starker Fantasie, die Häuser Nr. 22 und 23 vorstellen, wo Sander und die Herzens ein offenes Haus führten und Jean Paul sich wohlfühlte. (Foto: Frank Piontek, 4.3. 2013).

Nur ein paar Schritte weiter, und schon ist der Flaneur in jener Gegend, in der Jean Paul erstmals seiner Frau begegnete. „Er will eigentlich nur Weiber sehen“, schrieb Friedrich Schleiermacher an den schwedischen Diplomaten und Dichter Karl Friedrich Brinckmann am 9. Juni. „Selbst eine gemeine wäre immer, wenn auch nicht eine neue Welt, ein neuer Weltteil.“ „Überhaupt“, berichtet Henriette Herz, hinderte ihn sein schlechtes Quartier nicht, dass die ausgezeichnetsten und vornehmsten Damen dort bei ihm vorfuhren und ihn besuchten.“

War Karoline Mayer „gemein“? Kurz nachdem Schleiermacher über Jean Pauls Weibersucht schrieb, teilte die junge Dame ihrer Schwester Minna mit, dass er ihr das Haar aus der Stirn gestrichen habe: „Es ist recht schön“. Dann fragt er: „Ist Ihnen wohl?“, blickt mit einer Träne auf, dann erleuchtet ein heller Gedanke das tränende Auge. „Gott, liebe Minna, dann möchte man vergehend vor ihm niederfallen.“ Man traf sich beim Verleger und Schriftsteller Johann Daniel Sander, in der Breiten Straße 23, gleich neben dem Haus Nr. 22, dem Haus der Herzens, das sie vor Jean Paul Zuzug bewohnten – „er war viel und, glaube ich, gern in unserem Hause“, bemerkte die Salonlöwin, deren Salon in der Neuen Friedrichstraße – den Jean Paul dann besuchte – schon lange nicht mehr existiert, nicht einmal mehr das Haus, in dem sie und ihr Mann, der Arzt Marcus Herz, damals wohnten. Karl Voß hat die Begegnung von Jean und Karoline prägnant beschrieben: „Hier“ – bei Sander – „küsste die 22jährige Karoline Mayer den wie sie zu einem Fest eingeladenen Schriftsteller, der sich leicht berauscht auf einem Sofa ausgestreckt hatte, auf den Mund. Jean Paul verlobte sich mit ihr...“

Man kann sich zwar die intime Situation vergegenwärtigen, doch unmöglich an diesem Ort. Lediglich die alten Häuser der Stadtbibliothek sind über die Zeiten gekommen, das alte Ribbeckhaus, nebenbei: das einzige Wohnhaus der Renaissance, das sich erhalten hat. Ansonsten herrscht hier die Moderne. Ein Grund mehr, Romane wie Die unsichtbare Loge zu lesen, die uns das Ver- und Entschwundene vergegenwärtigen: gerade weil es so anders anmutet als fast alles, was an einem Broadway zu finden ist – aber wer weiß: vermutlich besitzt auch die Stadtbibliothek im Ribbeckhaus eine Jean-Paul-Ausgabe (zumindest die Gesammelten Werke).

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