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14.09.2020, 15:03 Uhr
Nicole Eick
Text & Debatte
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Ein Auszug aus dem neuen Kurzgeschichtenband von Nicole Eick

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© Iatros Verlag

Nicole Eick wurde 1957 in Karlsruhe geboren und lebt als Sozialpädagogin im oberfränkischen Coburg. Sie ist Gewinnerin des Kulturwettbewerbs „Coburg im Jahr 2010“, 2009 gründete sie die Coburger Autorengruppe SCHREIBSAND mit. Inzwischen hat sie drei Romane vorgelegt. 2017 erschien mit Buchstabensuppe – ein Lesebuch für Fortgeschrittene ihr erster Kurzgeschichtenband. Wort verjährt nicht ist nun der Titel von Nicole Eicks zweitem Band mit Kurzgeschichten. Denn, so Eick, „Worte sind was Wunderbares. Sie tragen dich hoch in die Lüfte, holen dich wieder auf den Boden, stürzen dich in Abgründe. Mit ein wenig Glück überdauern sie in Büchern die Zeit“. Wir veröffentlichen einen Auszug aus ihrem Buch, das diesen Sommer 2020 im Iatros Verlag erschienen ist.

*

Wie viele Leben

Wie viele ihrer Leben verspielt eine Katze, die aus dem 15. Stock fällt?

Sie balancierte auf dem Geländer des Balkons, das tat sie gelegentlich, wenn sie Lust hatte, eines ihrer Leben aufs Spiel zu setzen. „Sie ist sehr kapriziös“, berichtet Gertrud H. später der jungen Frau von der Presse. Frau H. ist 76 Jahre alt und hat fürs Pressefoto ihre Haare frisch ondulieren lassen.

Drei Tage zuvor. Gertrud H. bürstet im Badezimmer ihr Gebiss. Die Katze fällt beim Balancieren auf dem Balkongeländer in die Tiefe. Es sieht aus, als würde sie segeln, elegant dreht sie sich beim Fallen um die eigene Achse. Ihre Augen sind aufmerksam geöffnet, als müsste sie sich auf die zurückzulegende Strecke konzentrieren. Oder all das in sich aufnehmen, was sich hinter den Fenstern der Stockwerke abspielt.

   14. Stock, ein Mann lehnt am Geländer und raucht. Asche rieselt, der Bauch knurrt, ein Furz entweicht, von drinnen keift die Frau Unverständliches. Sein Blick geht senkrecht nach unten. Die vom Siebten hängt Wäsche auf, rosa Betttücher, sie spannt sie von einer Leine zur anderen. Er könnte in diese Betttücher springen. Sie gingen – ratsch – entzwei, Strafe genug dafür, dass die vom Siebten ihn nicht in ihr rosa bezogenes Bett gelassen hat.
Fast trifft ihn die Katze am kahlen Hinterkopf, als sie den Vierzehnten passiert. Ein Schrei des Erschreckens folgt.

   13. Stock, keiner zuhause, er arbeitet, sie arbeitet, die Kinder sind in der Schule. Ein Wellensittich zwitschert, ein Hamster dreht am Rad. Was interessiert sie eine fallende Katze. Katzen, die vom Balkongeländer fallen, fressen schon mal keine Wellensittiche.

   12. Stock, sie steht am Bügelbrett und bearbeitet seine Hemden. Falte für Falte rückt sie dem Stoff auf den Leib. Bügelfrei, ha! Es soll ihr mal einer ein bügelfreies Hemd zeigen. Sie bügelt, als hinge ihr Leben davon ab. Dass gerade das Leben einer Katze auf dem Spiel steht, merkt sie nicht. Es wäre ihr auch egal, sie hat eine Katzenallergie.

   11. Stock, der junge Afrikaner geht mit dem Telefon in der Hand auf und ab. Er spricht laut und gestikuliert mit der freien Hand. Warum versteht seine Schwester in Somalia nicht, dass er immer noch kein Geld schicken kann? Er wohnt gemeinsam mit zwei anderen, aus Äthiopien, aus Syrien, alle kriegen Sozialgeld, keiner hat Arbeit, jeder Familie. Frauen und Kinder haben sie zuhause gelassen. Dort warten sie auf den Nachzug und auf Geld. Nach Katzen wirft man mit Steinen. Hier spielen Katzen anders mit ihrem Leben.

   10. Stock, der Fernseher plärrt, das Baby plärrt, das Telefon plärrt. Die Frau weiß nicht, wo sie zuerst hinlangen soll. Sie stellt den Fernseher lauter, damit sie das Kind nicht hört. Es schreit immerzu, will gefüttert und gewiegt werden, ist unersättlich in seiner Gier nach ihr. Und wer hätschelt sie? Dem winselnden Hund unterm Tisch gibt sie einen Tritt. Immerzu will er raus. Aber es wird gleich regnen, ein dunkler Schatten hat kurz das Fenster verdunkelt. Es hat zumindest eine Katze gehagelt.

  9. Stock, wieder einer, der Wäsche aufhängt, diesmal auf dem Balkon. Es ist ein alter, aber rüstiger Herr. Du wirst hundertzehn, sagen sie im Seniorentreff zu ihm, älter als der Heesters, du wirst sehen. Er glättet seine Socken, hängt sie bedächtig über die Stangen des Wäscheständers. Die Frau ist schon lange tot, wie hat eigentlich ihre Stimme geklungen? Das Hörgerät liegt drinnen in der Küche, die Batterien sind leer. Den Schrei des Mannes vom Vierzehnten hört er nicht. Der fallenden Katze dreht er gerade den Rücken zu.

   8. Stock, schmutzige Fensterscheiben, eine verlassene Wohnung, die Mieter sind ausgezogen, zwangsgeräumt, vor vier Wochen. Ein Poster klebt noch an der Wand, Glasscherben liegen auf dem Boden, Wollmäuse tanzen in den Ecken. Wollmäuse fürchten sich nicht vor Katzen.

   7. Stock, die Trommel der Waschmaschine rotiert, auf dem Herd blubbert die Suppe, das Radio spielt. Die Frau hat große Wäsche. Sie ist nach unten gegangen, wo die Wäschestangen stehen. Noch weiß sie nicht, welches Unheil von oben droht, den Schrei aus dem Vierzehnten hat der Wind davongetragen.

   6. Stock, er atmet tief durch. Bald wird er fertig sein. Die Folie könnte gerade so reichen. Dieses große Fenster zum Balkon ist eine Herausforderung. So viele Fugen, so viele Ritzen sind zu verschließen. Er rollt Alufolie sorgfältig zu knittrigen silbernen Würsten, drückt sie in die Ritzen, bis sie halten. Er muss sich wehren gegen das, was von draußen kommt, aus dem Kosmos. Folie für Folie klebt er auf die Scheibe, bis nur ein kleines Guckloch bleibt. Nur kurz spiegelt sich die vorbei segelnde Katze in diesem Stück der Scheibe.

   5. Stock, sie quietscht wie ein Schweinchen, er faucht wie ein Tiger, sie fallen übereinander, gleiten ineinander, liegen aufeinander, auf dem Tisch, auf der Couch, auf dem Teppich, schreien, gurgeln, stöhnen, gurren, japsen. Sie haben keine Zeit, bald kommt ihr Kind aus der Schule, bald seine Frau vom Einkaufen. Laute Orgasmen lassen keinen Blick auf lautlos fallende Katzen.

   4. Stock, das kleine Kind ruft Tatze, Tatze! Es steht in seinem Laufstall auf dem Balkon und rüttelt an den Holzstäben. Die Mutter putzt Fenster, im Moment des Falldowns taucht sie ihren Lappen ins warme Wasser und sieht nichts. Ja ja, sagt sie zu dem Kind, Tatze. Ich hol dir deine Katze. Sie steigt von der Leiter und holt die Stoffkatze aus dem Kinderzimmer. Das Kind ist bockig, will die Katze nicht, zeigt mit seinen Speckärmchen in den Himmel. Tatze, Tatze.

   3. Stock, die Frau ist einkaufen gegangen, Großkampftag im Großmarkt, Einkaufswagen voll Fleisch, Chips, Bier und Cola, ihr Mann hat Geburtstag, die Eltern kommen, Geschwister, Freunde. Der Mann sollte zuhause sein, er hat Urlaub. Aber er ist im Fünften, holt sich ein erstes feuchtes Geburtstagsgeschenk.
Was kümmert's eine Katze, die bald unten ankommt.

   2. Stock, zwei alte Jungfern beugen sich über ihre Näharbeiten. Die eine stopft Strümpfe, die andere lässt den Saum eines Rockes aus. Immer schön sparsam sein, warum Neues kaufen, wenn's das Alte noch tut. Die Renten sind klein, das Leben ist kurz, die Röcke sind lang. Was darunter ist, ist unbenutzt. Nur die alte Katze streicht an ihren Beinen entlang. Sie sieht nicht, dass ihre Artverwandte aus dem Fünfzehnten fliegen kann. Doch ihre Schnurrhaare zittern.

   1. Stock, hier wohnt der Hausmeister. Die Mieter gehen ihm auf den Sack. Hausmeisterlein, tu dies, tu das, nicht morgen, nicht heut, am besten gestern. Die Frauen lassen ihn nicht ran, die Männer schauen auf ihn herab. Er wird jetzt rauffahren in den Fünfzehnten, zu Gertrud H., und an ihrem Balkongeländer ein Netz spannen, wegen der Katze. Dann hört er ein Geräusch, dumpf und deutlich, gefolgt von einem leiseren zweiten.
Sie ist angekommen.

So elegant wie sie nach unten segelte, so elegant landete sie in den rosa Betttüchern von der aus dem Siebten. Sie waren wie Sprungtücher von einer Stange zur anderen gespannt. Wie eine Trampolin-Springerin hüpfte sie noch einmal nach oben, um weicher als vorher zu landen. Als der aus dem Vierzehnten und der Hausmeister ankommen, um die aus dem Siebten aus ihrer Ohnmacht zu wecken, ist sie längst in die Büsche verschwunden, um im Taumel der neuen Freiheit eine Maus zu jagen. Sie hat ihr Leben neu gewonnen.

 

Aus: Nicole Eick: Wort verjährt nicht. Ein Lesebuch für Unerschrockene, Iatros-Verlag Sonnefeld 2020, € 13,95.