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28.04.2020, 15:03 Uhr
Bernd Späth
Text & Debatte
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Über verdrängte Solidarität, menschliche Strebungen und phylogenetisches Umdenken

Der Abenteurer, Coach, Marketingexperte und Schriftsteller Bernd Späth wagte fünf Polarexpeditionen nach Spitzbergen. Am 29. April 1983 erreichte er als erster Deutscher die Nordspitze der norwegischen Insel über das Inlandeis. Insgesamt legte er ca. 10.000 km über polares Packeis und Gletscher zurück, verbrachte viele Wochen allein in einer Hütte und überstand zwei Eisbärenangriffe. 2019 erschien sein Buch mit Arktiserzählungen Durch die Arktis, zu mir selbst im Belle-Epoque-Verlag.

Bernd Späth veröffentlichte bislang sieben Romane und fünf Theaterstücke. Darüber hinaus bloggt er regelmäßig Geschichten aus dem Coaching. Aus aktuellem Anlass hat sich Späth nun mit der Corona-Situation beschäftigt. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. 

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Eigenartig, wie sich nun allerorten der Wunsch nach mehr Menschlichkeit regt, nach mehr Miteinander, nach mehr Solidarität, nach mehr Fürsorge. – Als wären wir es nicht selbst, die über das Ausmaß dessen entscheiden, was wir uns gegenseitig geben. – Mir fällt ein Zitat des Verhaltensforschers und Konrad-Lorenz-Schülers Eibl-Eibesfeldt ein, der in einem seiner wundervollen Werke sinngemäß schrieb: Wie sehr der Mensch in der Stadt – auf die er (phylo)genetisch gar nicht programmiert sei – in Wirklichkeit leide, erkenne man daran, wie er am Wochenende nachgerade panisch ins Grüne flüchte; – und damit in eine Umwelt, die ihm offensichtlich gemäßer sei. Ich denke, dass die aktuelle Situation uns erlaubt, auf eine Analogie zu schließen: der Mensch leidet unter der selbstgeschaffenen Entmenschlichung der vergangenen Dekaden, unter ihrer Distanz, ihrer emotionalen Kälte, unter der Vernutzmenschung des Individuums als Wirtschaftsfaktor, der gefälligst ohne menschliche Bedürfnisse zu sein habe. Und falls doch, dann seien diese selbstverständlich dem Interesse des Unternehmens unterzuordnen. Ein solches, wenngleich perverses, System bleibt lange funktionsfähig. In Zeiten der Krise allerdings offenbart sich seine Unehrlichkeit: Es ist gegen die menschliche Natur gerichtet, und wie alle Verdrängungsmechanismen produziert es entweder Symptome, oder es erlebt den Durchbruch und die Aufarbeitung der Verdrängung. – – Symptome hatten wir reichlich und mehr als genug, in den vergangenen zwei Dekaden. Unsere gesellschaftliche Chance bestünde darin, nicht weiter zu verdrängen, sondern Rückwirkungen der Krise auf Gesellschaft und Arbeitswelt zuzulassen, die einen Reifungsprozess ermöglichen. Denn klar ist ohnehin, dass ein weitgehend auf Verschleiß angelegtes System auf Dauer keine Zukunft hat.

Natürlich gibt es Dummköpfe, die nichts kapieren und sich an nichts halten. Sie in die Schranken zu weisen ist in Krisensituationen die Aufgabe des Staates, denn meist reagieren sie tatsächlich nicht auf Einsicht, sondern nur auf Zwang. Woher aber kommen die durchaus positiven Trends, die sich nun in unserem gesellschaftlichen Leben abzeichnen? Mitmenschlichkeit, Nachbarschaftshilfe, gemeinsame Anstrengungen, gemeinsame Dankesbekundungen an die Vielzahl der Helfer*innen? Sie lassen etwas erkennen, was in einer immer narzisstischer gewordenen Bevölkerung fast schon verschwunden schien. Umso wichtiger festzuhalten, dass es sich hierbei nicht um eine aktuelle Stimmung handelt, sondern um den Durchbruch dessen, was wissenschaftlich längst als Kernbestandteil des So-Seins eines menschlichen Individuums nachgewiesen wurde.

Polare Strebungen: agency und communion

Von Beginn der menschlichen Entwicklung an nämlich wirken im Menschen zwei Strebungen zusammen, um ihm ein echtes Menschsein zu ermöglichen: Freud nannte es „die Strebung nach menschlichem Glück und die nach menschlichem Anschluss“. Freud-Schüler Alfred Adler sprach von „Streben nach individueller Vervollkommnung einerseits und Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl andererseits“. Es sind also polare Strebungen, die den Menschen von frühester Entwicklung an treiben, und sie wirken vom ersten Moment an zusammen: Erst die Einbettung in die z.B. familiäre Gemeinschaft ermöglicht einem Kind das Überleben und die Entwicklung individueller Neigungen, Bedürfnisse und Wesenszüge. Karl Köhle bezeichnet diese beiden Strebungen als „Basiselemente der Passungskompetenz“ und betrachtet sie als „Modalitäten von existentieller Bedeutung“ für alle Lebensformen. – Passungskompetenz? Am besten wohl übersetzt mit der Fähigkeit, sich in seinem Umfeld zurechtzufinden und dabei übermäßige Stressreaktionen zu vermeiden.

Die gebräuchliche Bezeichnung in der heutigen Fachliteratur sind „agency“ und „communion“ (s. dazu auch meinen früheren Essay). Agency also verfolgt existentielle (und damit egozentrische) Interessen des Organismus als Individuum. Es geht somit um individuelle Abgrenzung von der Gemeinschaft, um Selbstregulation und Selbsterweiterung und nicht zuletzt auch um die Kontrolle der Umwelt: Ich habe mir individuelle (!) Ziele gesetzt und versuche, mir meine Umwelt im Sinne meiner Interessen gefügig zu machen. Autonomie, Leistung, Kontrolle und Macht sind die Themen, die für den individuellen Lebenserfolg als maßgeblich betrachtet werden. – Wer sich die vergangenen 30 Jahre ansieht, der wird genau dies erkennen: „Du entscheidest selbst über dein Leben!“, suggeriert uns die TV-Werbung und propagiert dazu im Zweifel ein Hühneraugenpflaster oder eine Slipeinlage. Man wird wohl sagen müssen, dass vorwiegend narzisstische Ziele im Vordergrund der Gesellschaft stehen: individueller Erfolg, der andere ungerührt hinten runterfallen lässt. „Mein Auto, mein Haus, mein Boot.“ – – Schon, ja, wenn´s dem inneren Frieden dient...? Nur frage ich mich dann, warum ein erfolgreicher Mittdreißiger mir vor einiger Zeit sagte: „Wir dürften die depressivste Generation der Nachkriegszeit sein.“ Und eine andere Gesprächspartnerin ergänzte: „Uns hat man doch alles genommen!“ – Da staunt man nicht schlecht, so als Nachkriegskind und Spät-Achtundsechziger.

Der Mensch ist kein Eisbär

Was also fehlt in diesem Konzert der vorgegaukelten Scheinautonomie? Ein Blick auf das zweite Element könnte uns helfen: Es ist eigentlich sehr einleuchtend, dass Menschen für ein Leben als abgekoppelte Einzelgänger nicht designed wurden, – anders etwa als Eisbären, die in aller Regel alleine unterwegs sind, um die Nahrungsversorgung zu vereinfachen. Menschen hingegen sind ihrer Natur nach (!) Gruppenwesen. Von bestimmten krankhaften Störungen abgesehen, tragen sie in sich das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen, nach Teilhabe und nach dem wichtigen Gefühl, auf Augenhöhe dazuzugehören. Wir alle also spüren in uns das fundamentale Verlangen, mit anderen eine Einheit zu bilden. – Und dies nicht nur zahlenmäßig, sondern auch emotional. Das allerdings ist nicht denkbar ohne emotionalen Austausch im Sinne von Geben und Nehmen. – Wohlgemerkt: Es geht nicht um Sozialromantik, sondern um (phylo)genetische Programmierungen, wie sie gerade im Bereich der Säuger dominieren: Soziale Verbundenheit, Kooperation, Vertrauen, Intimität, Fürsorge, Zärtlichkeit, Liebe, – alles das gibt uns das bestimmende Gefühl, alleine nicht „komplett“ zu sein. Wir spüren ein massives Defizit. So begeben wir uns zu Freunden oder in Kneipen, zu Geliebten oder in Vereine. Hauptsache nicht alleine!

Man kann allerdings nicht beides haben: Wer rücksichtslos seine eigenen „Erfolgsziele“ propagiert, verweigert der zweiten lebenswichtigen Daseinskomponente die Nahrung. Wer sich umgekehrt ohne soziale Zugehörigkeit nicht definieren kann, verzichtet auf die Verwirklichung individueller Ziele. Die 68er haben „das Soziale“ und die Solidarität teils aufdringlich in den Vordergrund gestellt; Individualismus war nur geduldet, wenn er sich gegen das „Establishment“ richtete, und damit war er keiner mehr. Wie zu erwarten, ließ die Folgegeneration, die sich in den Pubertätsjahren von der Elterngeneration unvermeidlich abnabelte, das Pendel in eine andere Richtung ausschlagen. Wobei findiges Marketing sie nahezu von Kopf bis Fuß vermasste.

Man kann aber auf existentielle psychische Bedürfnisse ebenso wenig verzichten wie auf Trinken, Atmen oder Verdauung: Findet es nicht statt, gerät der Organismus aus der sogenannten „Homöostase“ – also einem definierten Fließgleichgewicht –, erleidet mittelfristig Schaden und stirbt ab. Bevor er das tut, wehrt er sich natürlich und versucht bei der nächstbesten Gelegenheit, genau diese Homöostase wiederherzustellen. – – Klingelt´s?

Falschverstandene Autonomie

Man wird kaum bestreiten können, dass unsere „erfolgs“-geile Gesellschaft schon seit geraumer Zeit aus dem Gleichgewicht geraten ist, die Medien waren ja voll davon: Depression, Burn-Out, Sinnkrise, etc. Der soziale Druck, sich individuellen Erfolg zu eigen zu machen, wird nur allzu oft als unerträglich bezeichnet, und wenn ich Enddreißiger sehe, die „nicht mehr können“, aber den Ausstieg aus dem Hamsterrad nicht finden, dann erlaube ich mir die These: Unsere Gesellschaft ist  schon viel zu lange aus der Homöostase in den pathologischen Zustand geglitten. Man kann sich diese Störung eine Zeit lang schönreden, doch zeigt genau der aktuelle gigantische Stimmungsschwenk, dass offenbar schon lange etwas kollektiv vermisst wurde: Die „agency“ war überdominant, die „communion“ fristete ein Paria-Dasein. Anders lässt sich nicht erklären, wieso allerorten Stimmen laut werden, wir müssten nun hoffentlich mal „zur Besinnung kommen“. Sowas muss man nur, wenn vorher etwas gründlich aus dem Ruder gelaufen ist. Und offensichtlich wurde es von der Mehrzahl aller Individuen deutlich wahrgenommen, wenngleich verdrängt unter dem kollektiven Konformitätsdruck: Um dabei zu sein, musst du „Individualist“ sein und darfst keine „Schwäche“ zeigen, also keine aus der „communion“ stammenden Bedürfnisse signalisieren. „Autonomie“ als Gruppenzwang. – Widersinniger geht´s ja kaum.

So etwas trägt nur begrenzte Zeit, und ich erinnere mich gut an den Satz einer befreundeten Psychoanalytikerin: „Ein falsches Selbst funktioniert höchstens bis Anfang-Mitte Vierzig, dann kollabiert es!“ Mir scheint, das lässt sich auch auf Gesellschaften anwenden. Sollte es also möglich sein, dass ausgerechnet der Coronavirus in all seiner Grausamkeit (die wir als Gegenstück zum grausamen Anpassungsdruck anscheinend brauchten?) uns den überfälligen Ausweg aus der Seelenkrise unserer Gesellschaft weist? Es wäre makaber und zugleich ein Armutszeugnis für uns als Community. Doch, wie gesagt, unterdrückte existentielle Bedürfnisse nutzen die nächstbeste – oder eben auch die nächstschlechteste – Gelegenheit, in unser Leben zurückzukehren.

Der Virus destabilisiert uns. Er schickt uns zurück auf „Los!“ Das ist Tragödie und Chance zugleich. Und möglicherweise der Beginn eines (phylo)genetisch erzwungenen Umdenkens auf das, was richtig ist, eben weil es menschlich ist.

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