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25.01.2013, 17:49 Uhr
Pete Smith
Text & Debatte
Im Juli 2012 trafen sich vier tschechische und vier deutsche AutorInnen in Lidice, um den Gedächtnis-Ort kennenzulernen – und darüber zu schreiben. Die Essays erscheinen in loser Folge im Blog des Literaturportals Bayern.

[Lidice-Austausch]: Was bleibt, sind Geschichten

Unter mir das Tal. Ein weitläufiger Park mit grüngelben Wiesen, durch die sich ein schmaler Weg windet. Die Bäume halten Abstand zueinander, nur oberhalb des Hangs formen sie einen Wall, der die Senke nach Süden hin begrenzt. Im Schatten eines Baums steht eine Bank, auf der niemand ausruht. In der Talsohle, vor dem dunklen Grün einer Baumkrone, ragt ein schmales Kreuz empor. Weißgraue Wolken ziehen darüber hinweg. Bis auf das Rauschen in den Bäumen ist es still.

Als die Sonne durch die Wolken bricht, steige ich hinab. Wind weht durchs Tal, getränkt vom Duft der Wiesen. Das Gras wurde erst vor wenigen Tagen gemäht. Dennoch sprießen allerorts Blumen – Kamille und Klee, Huflattich und Schafgarbe, Disteln und Butterblumen. Hinter der ersten Biegung ruht ein Quader im Gras. Ein blassroter Sandstein, geformt und verziert, ein zerbrochener Monolith, ein Stützstein oder Teil eines Gebälks, darauf ein Windlicht ohne Kerze.

Hier.

Am Mittwoch, dem 10. Juni 1942, wenige Minuten nach Mitternacht, zerreißt ein Schrei die Stille des Orts. Die zehnjährige Marie Doležalová schreckt aus dem Schlaf. „Aufmachen!“ Unbekannte hämmern gegen die Tür. Der Vater öffnet. Männer in Uniformen stürmen herein. „Los, los! Anziehen! Schnell! Schnell!“ In Windeseile kleidet sich Marie an und rennt mit ihren Eltern und ihrem Bruder Josef hinaus. Vor dem Haus und auf der Straße zum Dorf wimmelt es von deutschen Polizisten. Was denn los sei, will der Vater wissen, doch niemand antwortet. Stattdessen werden sie aufgefordert, mitzukommen, hinunter ins Dorf, wo sie weitere Anweisungen erhalten. Das Haus der Doležals liegt etwas abseits, die Höfe der anderen Einwohner erstrecken sich längs der Talsohle. An der Dorfgrenze wird die Familie getrennt. Den Vater führen die Polizisten zum Gutshof der Familie Horák. Marie, Josef und ihre Mutter bringt man zur Schule, wo bald auch die anderen Frauen und Kinder des Dorfes eintreffen. Ihr Geld und ihre Wertsachen, das, was sie bei ihrem überstürzten Aufbruch unbedingt mitnehmen sollten, müssen sie nun abgeben. Still sollen sie sich verhalten und auf weitere Anweisungen warten, es werde ihnen nichts geschehen. Stundenlang harren sie in ihrer Ungewissheit aus. Im Morgengrauen fahren Lastwagen mit Planen vor das Schulgebäude. Alle Kinder und Frauen müssen aufsteigen. Staub wirbelt durch die Straßen, als Marie ihr Dorf zum letzten Mal sieht.

Unweit des Grenzsteins wachsen Mauerreste aus der Wiese. Wunden aus Stein. Hier ist Maries Vater gestorben. Am Vormittag des 10. Juni 1942. Zusammen mit 172 anderen Männern und Jungen des Dorfs. Alle männlichen Bewohner vom 15. Lebensjahr an. So hatte es die SS befohlen. Vor aufgerichteten Matratzen mussten sie sich aufstellen. Anfangs zu dritt. Als das zu lange dauerte, in Gruppen zu zehnt. Nach knapp zwei Stunden waren alle tot. Sechs Tage später, am 16. Juni 1942, brachten die deutschen Polizisten weitere Männer aus Lidice nach Prag-Kobylisy. Die Arbeiter der Nachtschicht und zwei Jungen, die ursprünglich mit den anderen Kindern weggefahren worden waren. Man hatte beide zurückgeschickt, nachdem die Gestapo erfahren hatte, dass sie doch schon 15 Jahre alt waren. Der eine Junge hieß Josef Doležal. Maries Bruder starb ebenso wie sein Vater im Kugelhagel des Exekutionskommandos. Nur wenige Lebensmonate entschieden über sein Schicksal.

Wind rauscht durch die Wipfel. Auch die Bäume erzählen die Geschichte dieses Orts. Einer, behaupten die Überlebenden, sei älter als alle anderen. Wenn ihre Erinnerung nicht trügt, hat dieser Baum als einziges Gewächs die lange Nacht im Juni 1942 überlebt. Alle anderen Bäume und Büsche wurden später gepflanzt. Um eine Erinnerung zu löschen, die sich als unlöschbar erwies.

Mein Vater war 14, als der Zweite Weltkrieg endete. Von den Luftangriffen, den Sirenen, den sich nahenden Fliegern, dem Sirren der Bomben und den Detonationen, von den Kratern, den Steinskeletten, den rauchenden Ruinen hat er nie erzählt. Nicht von seiner Angst oder seinen Albträumen, nicht von den Sorgen der Mutter, deren Brüder in Russland kämpften, nicht von der Furcht des Vaters, der seit Kriegsbeginn im Feindesland lebte, nicht von Hunger und Not, nicht vom Tod oder Überleben. Erzählt hat er vom Ball seines Freundes.

Ein christliches Symbol, wenige Meter vom Hof der Familie Horák entfernt, wahrt das Andenken der Toten. Zwei dünne Stämme kreuzen in luftiger Höhe. Um ihren Schnittpunkt herum windet sich eine Dornenkrone aus Draht. Die Sonne lugt zwischen den Wolken hervor. Der Schatten des Kreuzes fällt auf einen kleinen Garten mit Rasen und Rosenbeet, den eine Hecke aus Thujen und Buchsbäumen rahmt.

Hier.

Wahrscheinlich sind hier die Leichen der ermordeten Männer verscharrt. Genau weiß das niemand. Genau will das niemand wissen. Das ganze Areal ist Pietätgelände. Ein Friedhof ohne Gräber. In Sichtweite des Kreuzes haben die Überlebenden das Fundament der Dorfkirche freigelegt. Drüben im Museum ist das Kirchenportal zu sehen, das dem Feuer wie durch ein Wunder widerstand. Wunder sind nützlich. Wunder spenden Trost. An die einstige Dorfschule erinnert nur noch der Grundstein. Wenige Schritte vom Sockel der Kirche entfernt ragt das zerbrochene Fundament aus der grasüberwachsenen Erde.

Mehr ist nicht übrig.

Nachdem die Männer erschossen und die Frauen mit ihren Kindern fortgebracht worden waren, brannten die Deutschen das Dorf nieder, sprengten die verkohlten Ruinen und schändeten den Friedhof, bevor Einheiten des Reichsarbeitsdienstes das Gelände einebneten, meterhoch Mutterboden aufschütteten, Bäume und Sträucher pflanzten und sogar den Lauf des nahe gelegenen Flusses veränderten.

Nichts sollte mehr an Lidice erinnern.

Heute ist es das Nichts, das an Lidice erinnert. Eine Blöße inmitten der blühenden Landschaft. Ein Vakuum, in das die Nachgeborenen ihre Gedanken setzen. Eine Bresche, in die sie ihre Bilder zeichnen. Ihre Skizzen. Ihre Vorstellungen. Ihre Träume und Utopien.

Blick über das zerstörte Dorfgelände vom Norden aus

Während ich die Lichtung abschreite, kehre ich an den Ursprung zurück:

Warum dieser Aufwand?

Als Racheakt auf das Heydrich-Attentat, als Vergeltung für die Tötung des stellvertretenden Reichsprotektors, des Endlösers, hätte wohl die Ermordung der Geiseln genügt. Wieso haben die Nazis – und das mitten im Krieg – ein Heer von Soldaten ein ganzes Jahr lang damit beschäftigt, die ursprüngliche Gestalt jener Landschaft, die einst ein unbedeutendes Dorf umgab, auf diese Weise zu verformen? Was trieb sie an? Hybris? Die Vorstellung göttlicher Allmacht? Der Schock über die eigene Verwundbarkeit? Oder der Glaube, den Widerstand der Gegner durch ein nie da gewesenes Sühneopfer brechen zu können?

Wenn es tatsächlich um die restlose Auslöschung eines Andenkens ging, hätten sie auch alle schriftlichen Spuren beseitigen, jede Erwähnung des Ortes, alle Bilder und Erzählungen aus den Archiven tilgen, die Geburts- und Sterbeurkunden seiner Einwohner vernichten und die ehemaligen Lidicer, die Freunde und Nachbarn aus den umliegenden Dörfern, ja, im Grunde jeden aufspüren müssen, der das Dorf jemals betreten, vom Hügel aus betrachtet, Aufnahmen gesehen hatte, der also in der Lage war, anderen davon zu berichten.

Lastkraftwagen brachten die Frauen und Kinder nach Kladno. Zwanzig Minuten dauerte die Fahrt. In einer Sporthalle des Realgymnasiums harrten sie drei Tage und zwei Nächte aus. Auf dem mit Stroh bedeckten Boden kauerten 300 Menschen. Die Älteste 88 Jahre alt, der jüngste 16 Tage. Die Frauen wurden nach den Krankheiten ihrer Töchter und Söhne befragt, die Kinder nach undurchsichtigen Kriterien begutachtet, ihre Haar- und Augenfarbe notiert, ihre Schädel vermessen. Schließlich schrieb man ihre Namen auf Pappschildern und hängte sie ihnen um den Hals. Am dritten Tag, einem Freitag, wurden die Kinder von ihren Müttern getrennt. Marie erinnert sich, dass ein Soldat, als sich die Kinder an ihre Mütter klammerten, in die Decke schoss. Sie erinnert sich an den rieselnden Putz. Und an die dröhnende Stille.

Die Frauen deportierte man ins Konzentrationslager Ravensbrück, die Kinder in ein Sammellager nach Lódź. Bis auf drei, die, aufgrund ihres vermeintlich arischen Aussehens auserwählt für die Germanisierung im Deutschen Reich, zunächst in die Technische Hochschule nach Prag gebracht wurden. Von den 88 Kindern in Lódź bestimmten SS-Funktionäre weitere sieben zur Eindeutschung, einen Jungen und sechs Mädchen, darunter Marie Doležalová. Für die anderen 81 Kinder aus Lidice holte sich SS-Obersturmbannführer Hermann Krumey, Leiter der Umwandererzentralstelle Posen, bei seinem Vorgesetzten Adolf Eichmann im Reichssicherheitshauptamt in Berlin die Erlaubnis, sie der „Sonderbehandlung“ zuführen zu dürfen. Zuvor trug man den Kindern auf, Postkarten an ihre Verwandten im Protektorat zu schreiben. Einige Karten sind noch erhalten. Sie erzählen von der Einsamkeit der Kinder, ihrem Hunger und ihrer Not. Alle enden mit der Bitte, ihnen Essen, Kleider, Papier und Briefmarken nach Polen zu schicken. Die Absender-Adresse: Litzmannstadt, Lager Gneisenau 41, Warthegau.

Zwei Tage, bevor ein Postbeamter die Karten in Lódź abstempelte, holte ein Auto die Kinder im Sammellager ab und brachte sie nach Chelmno, Kulmhof, wo sie vermutlich am 2. Juli 1942 in einem Gaswagen erstickten.
„Sehen Sie, bald werde ich 80“, sagt Marie Šupiková, geborene Doležalová, „und doch bin ich immer ein Kind von Lidice geblieben.“

Auf einem von Sträuchern umrankten Podest erinnert eine Gruppe von Bronze-Statuen an die jüngsten Einwohner, die in der Nacht ohne Morgen starben. Hier, am Denkmal für die Kinder von Lidice, nimmt das Unfassbare Gestalt an, streben Vergangenheit und Gegenwart ineinander. Traurig blicken die Kindergesichter in die Ferne oder verschließen vor dem Grauen die Augen. Zu ihren Füßen liegen Andenken der Besucher – Stofftiere, Puppen und Spielzeugautos, vertrocknete Rosen und Plastikblumen, ein Schlüsselanhänger, ein Kaugummi und ein Lutscher. Zwei junge Besucher blicken auf die Figurengruppe. Selbst Kinder, verstehen sie wohl, was mit denen, an die die Abbilder erinnern, im Sommer 1942 geschah. Doch was das mit ihnen zu tun hat?

Ich war sechs oder sieben, als mir mein Vater zum ersten Mal von jenem Augenblick erzählte, der sein Leben durchdrang wie kein anderer und den er später noch manches Mal heraufbeschwor, in immer denselben Worten. Was mir erst nach seinem Tod bewusst wurde: Die Geschichte hinter der Geschichte sparte er jedes Mal aus. Wie er als Kind den Krieg erlebt hatte, woran er glaubte und wovon er träumte, wie er seine Tage verbrachte, allein oder mit Freunden, welche Hobbys er hatte, welche Schätze er barg, was er liebte oder verabscheute, welche Gerichte ihm seine Mutter kochte und welche Geschichten ihm sein Vater vor dem Zubettgehen vorlas, ob er, der ohne Geschwister aufwuchs, sich einsam fühlte oder die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Eltern genoss.

Meine Großeltern sind sich während des Ersten Weltkriegs zum ersten Mal begegnet. Reginald James Stephen Smith, 1900 geboren, diente als Soldat in der britischen Armee, Maria Müller, gut ein Jahr jünger als mein Großvater, lebte zu jener Zeit in Opladen, damals Kreisstadt, heute Stadtteil von Leverkusen. Wie und wann sie sich kennengelernt haben, bleibt ungewiss, ebenso ob es Liebe auf den ersten Blick war oder ob sie sich allmählich näher gekommen sind. Geheiratet haben sie nach dem Krieg, am 8. Juli 1924 in Poole, einer Küstenstadt im Süden Englands, die früher zur Grafschaft Dorset gehörte und Geburtsstadt meiner Urgroßmutter war. Sechs Jahre nach ihrer Hochzeit, am 22. Oktober 1930, zweieinviertel Jahre vor der Machtergreifung Hitlers, kam in Leverkusen mein Vater Thomas Ralph Smith zur Welt. Kurze Zeit nach seiner Geburt kehrte die Familie nach England zurück, wo mein Vater auch seine ersten Lebensjahre verbrachte. Über diese Zeit ist mir, bis auf die Namen einer Tante und eines Cousins, nichts bekannt.

Warum die Familie nach Kriegseintritt der Briten am 3. September 1939 in Leverkusen weilte, ist ebenfalls ungewiss, von denen, die ich fragen könnte, ist niemand mehr am Leben. Mein Großvater, zu jener Zeit Lehrer an einer Fremdsprachenschule im Rheinland, hätte das Unheil voraussehen müssen, ebenso wie meine Großmutter, die Propagandamaschinerie der Nazis lief längst auf Hochtouren. Unwahrscheinlich, dass beide vom Kriegsbeginn überrascht wurden. Möglich, dass sie ihre Ausreise geplant hatten, aber erforderliche Papiere fehlten. Jedenfalls wurde mein Großvater nach der Kriegserklärung der Briten interniert. Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Machthaber des Reichs vor einem englischen Sprachlehrer fürchteten. Wahrscheinlicher ist, dass sie ihn aus Rache einsperrten oder ihn als Geisel festhielten. Beharrlich wie meine Großmutter war, gelang es ihr zunächst, die Freilassung ihres Gatten zu erwirken. Was die Gestapo jedoch nicht daran hinderte, ihn ein zweites Mal zu internieren. Auf welche Weise mein Großvater abermals freikam und wie die Familie die letzten Kriegsjahre erlebte, auch das bleibt im Dunkeln. Hell wird es erst wieder mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen und dem Wiederaufbau des Landes, an dem meine Großeltern ebenso mitwirkten wie mein damals 15-jähriger Vater.

Der Vorfall, der ihm ein Leben lang nachhing, muss sich zugetragen haben, als er acht oder neun war. Ich stelle mir einen Jungen in kurzen Hosen vor, klein und schmächtig, mit einem hübschen Gesicht und dunkelblonden Haaren. Es ist Nachmittag, vielleicht scheint die Sonne, vielleicht ziehen Wolken über die Stadt, aber es regnet nicht, sonst hätte ihn die Mutter oder eine der Tanten längst reingeholt. Der Junge spielt mit dem Nachbarkind Fußball. Wahrscheinlich haben sie ein Tor abgesteckt, mit ihren Tornistern oder ein paar Steinen, vielleicht kicken sie auch gegen eine Wand im Hof. Dann geschieht, was nicht geschehen darf: Der Junge nimmt Anlauf und schießt den Ball, den Ball des anderen, versehentlich aufs Dach. Der Nachbarjunge heult los. Läuft weinend heim und erzählt seinem Vater, was soeben geschah. Weiß vor Wut stürmt der hinaus, packt den Übeltäter, knallt seinen Kopf gegen die Wand und rammt ihm die Faust ins Gesicht. Du dreckiger Engländer! Nur dieser Satz. Mit ihm bricht die Geschichte ab. Offensichtlich ist dem Jungen niemand zur Hilfe geeilt. Offenbar ist der Angreifer nie belangt worden. Offenkundig wurde meinem Vater nie Gerechtigkeit zuteil. Nach dem Krieg setzt die Geschichte unvermittelt wieder ein, als mein Vater, zwischen Deutschen und Alliierten dolmetschend, plötzlich zu den Siegern zählt, die ihn mit den Insignien ihrer Macht ausstatten – mit Zigaretten und Schokolade.

Die Wunden, die er an jenem Nachmittag in Leverkusen erlitt, sind nie verheilt. Die jähe Erschütterung seiner Welt, seine Ohnmacht und Schutzlosigkeit und Verzweiflung, das Gefühl von Minderwertigkeit allein seiner Herkunft wegen – das hat ihn geprägt, das hat er an uns, seine Kinder, weitergetragen. Ein nachhaltiges Erbe. Da er autoritätshörig war, mussten wir gegen jede Autorität rebellieren. Da er sich anpasste, mussten wir auffallen. Da er zeit seines Lebens deutscher sein wollte als die Deutschen, mussten wir unsere Herkunft verteidigen und unsere nie gesehene Heimat loben. Wir waren zu fünft, er war allein. An meinem 30. Geburtstag haben wir ihn zu Grabe getragen. Mit seinem Tod jedoch ist der Widerspruch gegen ihn nicht gestorben. Mein Sohn, der seinen englischen Großvater nie kennengelernt hat, wird auf seine Weise mit seinem Erbe verfahren. Wie die Eltern und Großeltern sind auch die Enkel Gefangene im Labyrinth der Zeit.

Die jungen Besucher sind weitergezogen. Ich höre sie lachen. Zurückgelassen haben sie eine Karte. Darauf ein Datum und zwei Namen.

Ortsplan des alten und neuen Lidice. Links oben das neue Dorf, die horizontale gerade Linie stellt eine Gasse dar, die direkt ins Museum führt. Rechts unten das alte zerstörte Dorf.

Nur 17 Kinder von Lidice haben die Rache der Nazis überlebt. In Sichtweite der Kirchenfundamente, jenseits des Flusses, haben die Frauen, die aus dem Konzentrationslager in ihre Heimat zurückkehren konnten, das neue Lidice errichtet. Zu ihm gelangt man durch einen Garten, in dem Tausende Rosen blühen. Aus aller Welt wurden sie hierher getragen und in die Erde von Lidice gepflanzt.

Ein Hochzeitspaar posiert vor der Blumenpracht. Der Fotograf sieht hinauf. Er wartet den Augenblick ab, da die Sonne wieder durch die Wolken bricht. Die Tradition will es so, dass jedes Brautpaar am Ort des Gedenkens einen eigenen Rosenstock setzt. Ein blühendes Andenken.

In das neue Lidice führt eine 400 Meter lange Allee, die „Straße des 10. Juni 1942“. Ein Grünstreifen in der Mitte, eine Reihe Bäume, zu beiden Seiten 160 Häuser, alle einstöckig, mit Zaun und Vorgarten, die meisten grau, einige leuchtend gelb, nirgendwo eine Kirche oder ein Marktplatz, ein lebloser Ort – zumindest an diesem Tag. Am Ende der Allee erhebt sich ein wuchtiges Gebäude mit einem hohen Portal aus Glas, in dem sich der wolkige Himmel spiegelt. „Lidická Galerie“ steht über dem Eingang. Bedeutende Kunstwerke sind hier versammelt, auch von deutschen Künstlern, ebenso Kinderzeichnungen aus aller Welt. Von der Freitreppe blicke ich zurück. Kein Mensch weit und breit. In einem der Häuser wohnt Marie Šupiková, das ewige Kind. 13 Kinder von Lidice leben noch. Wer bewahrt ihre Erinnerung, wenn der letzte Zeitzeuge stirbt?

Marie Doležalová war zehn, als sie in einer still gelegten Textilfabrik in Lódź, das die Deutschen Litzmannstadt nannten, auf ihr weiteres Schicksal harrte. Damit gehörte sie zu den älteren Kindern, die sich um die Kleinsten kümmerten, die, aus ihrer behüteten Welt gerissen, den ganzen Tag über weinten. Die meisten Kinder hatten nur dünne Kleider an. Einige waren nackt. Sich selbst überlassen, lagen sie auf dem kalten Fabrikboden, wo sie sich nachts notdürftig mit Mänteln zudeckten. Sie bekamen wenig zu essen und litten Tage lang Hunger. Waschen durften sie sich nicht, so dass die meisten bald von Läusen und anderem Ungeziefer geplagt wurden.

Marie Šupiková erinnert sich an einen Soldaten, einen SS-Mann, der einen Stock in der Hand hielt, vielleicht eine Gerte, mit dem er sich gegen die Stiefel schlug und hin und wieder auf eines der Kinder wies. Auch auf sie zeigte der Stock, warum, das ahnte sie nicht. Am Ende waren sie sechs Mädchen.  Darunter zwei Schwestern, die, als man sie wegbringen wollte, auf einmal zu schreien und weinen begannen. Ihr Bruder, auf den sollten sie doch aufpassen, das hatten sie ihren Eltern versprochen. Um die Mädchen zu beruhigen, willigte der SS-Mann ein, den Bruder mitzunehmen. Von 88 Kindern wählte man also sieben aus, die man für rückdeutschungsfähig hielt. Dass sie selbst eine der Auserwählten war, darüber wundert sich Marie Šupiková noch heute. Blond und blauäugig ist sie nie gewesen.

Wer der Soldat in Stiefeln war, das hat sie erst sehr viel später erfahren: SS-Obersturmbannführer Walter Robert Dongus, von Beruf Lehrer, nach seinem Eintritt in die NSDAP und Waffen-SS Dozent für Fragen der Rassentheorie und Leiter der Außenstelle Litzmannstadt des Rassen- und Siedlungshauptamtes, von 1945 bis 1955  in Kriegsgefangenschaft, danach Lehrer in Reutlingen. Im selben Jahr wie mein Großvater geboren, starb Dongus 1964, zwei Jahre vor jenem, der als Sprachlehrer inzwischen in Soest, meiner Geburtsstadt, lebte.

Bunt sind die Bilder, die im Foyer der Galerie hängen. Bunt und traurig zugleich. Auch sie erinnern an die ermordeten Kinder von Lidice. An alle Kinder, die in Bürgerkriegen, Unabhängigkeitskriegen, Partisanen- und Guerillakriegen, Koalitionskriegen und Weltkriegen starben. Die noch immer sterben. In Syrien, in Afghanistan, in Somalia, Angola, Libanon und Palästina.

Vergangenes wird gegenwärtig. In unserer Gegenwart scheint unsere Zukunft auf.

Von Lódź brachte man Marie in ein Kinderheim nach Pastuchów nahe Posen. Sie erinnert sich an die Entlausung und daran, dass ihnen ihre Erzieherinnen eiserne Disziplin und Benimmregeln eintrichterten. Sie erinnert sich an den täglichen Deutsch-Unterricht und daran, dass ihnen unter Strafe verboten war, in ihrer Muttersprache zu reden. Sie erinnert sich an Spaziergänge im Wald, an einen wunderschönen Park und daran, dass die Kinder häufig im Garten arbeiten mussten. Sie erinnert sich an das einzige Osterfest, das sie im Heim erlebte, an die Eier und Süßigkeiten, die im Haus versteckt waren, ihr schönstes Andenken an diese Zeit.

Ein Jahr bleibt Marie in Pastuchów. Ein Schattenjahr mit wenig Licht. Eines Tages ruft sie die Leiterin des Kinderheims, Frau Höpfner, in ihr Büro. Dort sitzt ein älteres Ehepaar. Marie muss vor ihnen auf und ab laufen, warum, das weiß sie bis heute nicht. Die Eheleute, Ilse und Alfred Schiller, kommen noch dreimal nach Pastuchów. Im Juli 1943 schließlich nehmen sie Marie mit. Nach Posen, der Hauptstadt des von den Nazis erschaffenen Reichsgaus Wartheland. Da ist Marie elf. Ihre neue Familie wohnt in der Hindenburgstraße 6. Von ihrer Adoptivmutter erhält sie zwei Kleider, ein hellblau-weiß kariertes  und ein dunkelblaues mit roten Tupfen, die trägt sie gern. Sie bekommt reichlich zu essen, sie geht zur Schule, sie lernt Klavierspielen. Ihre Adoptiveltern behandeln sie gut, Marie kann sich nicht beschweren. Auch die Schillers sind mit ihr zufrieden. Nur Maries Name, der gefällt ihnen nicht. Also nennen sie ihr Kind Ingeborg. An der Herkunft eines Mädchens namens Ingeborg ist nicht zu zweifeln.

Die eingetragenen Vornamen meines Vaters lauteten Thomas und Ralph. An ihnen lässt sich weder die deutsche, noch die englische Herkunft ablesen. Zufall oder Kalkül? Kinder reden sich mit Vornamen an, allenfalls nennen sie sich bei ihren Spitznamen. Erwachsene identifizieren sich mit ihren Nachnamen. Ausgerechnet Smith. Da ist nichts zu machen. Ausgerechnet Müller. Als ob meine Großeltern allein mit der Kraft ihrer Namen unter den verfeindeten Völkern Frieden stiften wollten.

Bis Januar 1945 wohnt Marie bei den Schillers in Posen, das nach Ende des Kriegs wieder Poznan heißen wird. Mit der näher rückenden Front flieht die Familie nach Westen, zunächst nach Dresden, wo Marie im Februar die verheerenden Bombenangriffe der Amerikaner und Briten erlebt, später nach Boizenburg in Mecklenburg, wo sie in der Bahnhofstraße 30 eine neue Unterkunft findet. In der Kleinstadt an der Elbe erlebt Marie den Untergang des Deutschen Reichs.

Wenige Monate nach Kriegsende liest Maries Adoptivvater einen Aufruf Lidicer Frauen, die in Deutschland nach ihren verschleppten Kindern fahnden. Alfred Schiller reist mit seiner Ingeborg, die sich nun wieder Marie nennen darf, in das bis zur Unkenntlichkeit zerstörte Berlin. Dort wird dem Mädchen ein Klassenfoto aus Lidice vorgelegt, auf dem sie sich selbst erkennt. Zum ersten Mal erfährt die 14-Jährige nun das ganze Ausmaß dessen, was in ihrem Geburtsort am 10. Juni 1942 geschah. Ihre Mutter, teilt man ihr mit, habe das Konzentrationslager in Ravensbrück überlebt, liege aber mit schwerer Tuberkulose in einem Krankenhaus in Prag. Daher werde ihre Tante sie abholen. Einige Tage verbringen Marie und die Schillers noch gemeinsam in Berlin. Dann geht alles sehr schnell. Ohne sich von ihren Adoptiveltern verabschieden zu können, wird Marie von ihnen getrennt. Das einzige, was ihr von beiden bleibt, ist ein Foto. Doch auch diese letzte Erinnerung wird ihr bei der Übergabe genommen. Denn als Marie ihrer Tante das Bild zeigen will, nimmt die es ihr ab und zerreißt es vor ihren Augen. Die Tante hat beim Massaker der Deutschen sowohl ihren Mann als auch ihre drei Kinder verloren.

Die Schillers wird Marie Doležalová nie wiedersehen. Nachdem sie 1942 bereits ihren Vater und ihren Bruder verloren hat, stirbt am 9. Dezember 1946 auch ihre Mutter. Gemeinsam hatten sie nur noch vier Monate Zeit. Vier Monate, in denen sie sich ausschließlich mit Hilfe einer Dolmetscherin unterhalten konnten. Marie sprach nur noch Deutsch, ihre Mutter lediglich Tschechisch. Von ihrem Wiedersehen im Krankenhaus existiert ein Foto: Marie, mit Zöpfen, hockt auf dem Bett ihrer Mutter, die ihre Tochter an den Schultern hält. Mit ihrem Kopftuch sieht die verhärmte Frau im Bett nicht aus wie die Mutter eines 14-jährigen Teenagers, vielmehr wie ihre Großmutter.
Im Nachhinein betrachtet, wäre Marie selbst gern Dolmetscherin geworden. Aber zurück in Lidice, muss sie die deutsche Sprache schnell wieder verlernen. Sie wächst bei ihrer Tante auf. Als 15-Jährige sagt sie 1947 vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg als Zeugin aus. Ein Jahr später erlebt sie den Wiederaufbau des Dorfs. Wie viele Frauen von Lidice tritt sie in die Kommunistische Partei ein. Sie heiratet. Fortan heißt sie Šupiková. Sie bekommt eine Tochter. Sie erfährt, was es heißt, sich um ein Kind zu sorgen. Sie arbeitet im Bezirksamt, später im Museum. An den Gedenktagen lernt sie die Staatsmänner der Welt kennen, die den verschwundenen Ort in Lidice besuchen: Vaclav Havel, Richard Nixon, Helmut Kohl und François Mitterand. Sie findet ihre Bestimmung. Ihren eigentlichen Beruf: Zeitzeugin.

„Ich kann noch in meiner Erinnerung leben“, sagt Marie Šupiková. „Ich habe zehn Jahre in Lidice gelebt.“

Woran sie sich mit fast 80 Jahren erinnert: An den Zwetschgenbaum im Garten nebenan, von dem sie die Früchte stahl, um von der wütenden Nachbarin durchs halbe Dorf gejagt zu werden. An den Platz, auf dem sie mit den anderen Kindern Murmeln spielte. An den Teich, auf dem sie im Winter Schlittschuh lief. An die Dorfstraße, die sie mit ihrem Schlitten herunter fuhr und an deren Ende die alten Frauen standen, die, wenn die Kinder nicht rechtzeitig bremsen konnten, auseinanderstoben und von denen sie mindestens einmal eine umfuhren. An die Wiese, wo sie als Kind Gänse weidete. An die Wälder, in denen sie Holz sammelte. An den Bach, in dem sie im Sommer badete. An den Dorfladen, dessen Besitzerin mit einem Stock die zusammengeklebten Bonbons auseinanderschlug…

Was sich Marie Šupiková nicht verzeiht: Dass sie überlebt hat und nicht die anderen Kinder. Der stille Vorwurf in den Augen der verwaisten Mütter.

Was sich Marie Šupiková wünscht: Ein Foto ihres Adoptivvaters Alfred Schiller. Ihn hat sie gemocht.

Einige Male hat sie in den zurückliegenden Jahrzehnten nach den Schillers gesucht. 1972 nahm sie teil an einer Reise auf den Spuren der Kinder von Lidice. In Posen suchte sie nach der Hindenburgstraße, die nicht mehr so hieß. In der Nähe einer Kirche entdeckte sie ein Haus, das ihr bekannt vorkam. Sie klingelte im oberen Stock. Eine elegante Dame öffnete ihr. Als ihr Marie Šupiková ihre Geschichte erzählte,  ließ sie sie ein. Ja, die Schillers waren der Dame bekannt, aber was aus ihnen geworden war, wusste sie nicht. 1996 reiste Marie Šupiková nach Beutzenburg und fand dort sowohl ihr Wohnhaus in der Bahnhofsstraße als auch die Schule, in die sie damals ging. Aber wohin die Schillers gezogen waren, erfuhr sie nie.

„Es ist nicht immer einfach, sich zu erinnern“, sagt Marie Šupiková, „aber Erinnern ist meine Pflicht.“

Ihre Geschichte aufschreiben will sie hingegen nicht. Warum? Sie zuckt die Schultern. Vielleicht weil ihre Geschichte dann Geschichte wäre? Eine lebendige Erinnerung bleibt im Fluss. Vielleicht muss sie sich verändern.

Lidice im US-Bundesstaat Illinois, Lidice in Brasilien, Lidice in Panama, St. Jerónimo-Lidice in Mexiko – überall auf der Welt erinnern heute Städte, Dörfer, Viertel, Plätze, Straßen, Gärten und Schulen an den verschwundenen Ort. Mahnmale wurden errichtet, Gedenktafeln aufgestellt, Partnerschaften gestiftet, vielerorts nannten Eltern sogar ihre Mädchen Lidice, um an die toten Kindern zu erinnern. Darüber hinaus brennen Gedenktage die Erinnerung an Lidice, Ležáky, Telavåg und die anderen zerstörten Orte ins Gedächtnis der Zeit.

Und wenn der letzte Zeitzeuge stirbt?

Und wenn der Name eines Ortes zum Symbol erstarrt?

Die Gräber meiner Großeltern sind längst eingeebnet, auch die Ruhezeit für das Grab meines Vaters läuft in wenigen Jahren ab. Noch hegen wir, seine fünf Kinder, die Erinnerung an ihn, doch mit unserem Tod nehmen wir das lebendige Andenken an ihn mit ins Grab. Was bleibt, sind Bilder und Worte. Worte und Bilder, für deren Authentizität niemand mehr bürgt. Was bleibt, ist Geschichte, von jeder Generation neu gedeutet und erdacht. Was bleibt, sind Geschichten. Von dem Andenken anderer inspirierte Fiktion.

Pete Smith (1960) ist ein deutschsprachiger Schriftsteller britischer Herkunft. Er studierte Germanistik, Philosophie und Publizistik an der Universität Münster. Er lebt als freier Schriftsteller und Journalist in Frankfurt am Main. Er schreibt Romane, Jugendbücher, Erzählungen und Hörspiele. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. 2012 wurde er für sein Romanprojekt „Endspiel“ mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet. Erzählungen und Romane (Auswahl): Wer unterscheidet den Tänzer vom Tanz? (2008), Melzers Einfall (2002); Jugendbücher (Auswahl): So voller Wut (2009), Arm sind die anderen (2011).