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11.01.2013, 12:07 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [66]: Weiterer Brief des russischen Reisenden

Ein Repräsentant der russischen Literatur der Jean-Paul-Zeit: Nikolai Michailowitsch Karamsin. Wassili Andrejewitsch Tropinin malte ihn 1818, „als er noch lebte“ und Jean Paul mit seiner Selberlebensbeschreibung begann (links), Alexej Gawrilowitsch Venezianow[1] porträtierte ihn posthum, im Jahre 1828.

Bleiben wir – obwohl meine Leser sicherlich längst die Fortsetzung der Unter- und Oberscheerauer Geschichte kaum mehr erwarten können – bleiben wir noch ein wenig in Russland. Ich frage mich, ob es damals einen oder mehrere Dichter gab, die mit Jean Paul in irgendeinem Kontakt standen. Ich werde schnell fündig: Nikola Karamsin heißt der Mann, präziser: Nikolai Michailowitsch Karamsin, noch genauer: Николай Михайлович Карамзин. Er war drei Jahre jünger als sein deutscher Kollege und starb kurz nach Jean Pauls Tod[2]. Als er noch lebte[3], war er der populärste russische Autor: vielgelesen und nachgeahmt. In diesem Sinne war er kein Jeanpaulianer. Seit den 1780er Jahren wohnte er in Moskau, von hier zog es ihn nach Westen. Er bereiste in den Jahren 1789 und 1790 Deutschland; Ostpreußen, Berlin, Dresden, Leipzig, Weimar bezeichnen seine dortigen Standorte. Dann ging es in die Schweiz, nach Paris und nach London. Man kann das alles in den Briefen eines russischen Reisenden nachlesen. Dass er in ihnen unseren Mann erwähnt, ist unwahrscheinlich. Zumindest wird er nicht in der maßgeblichen Sammlung Eduard Berendts – Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen – erwähnt (diese unverzichtbare Fundgrube wird im Jean-Paul-Jahr wieder auf den Markt kommen und sei jedem empfohlen, der der Persönlichkeit des Menschen Jean Paul nahe kommen will. Die Russen – Schlagwort im Register – haben in ihr übrigens nur einen einzigen, marginalen Auftritt: Heinrich Voß, Jean Pauls Heidelberger Freund, beschreibt da 1817 den Auftritt eines Fuhrmanns, der keinen Alkohol verträgt. Jean Paul kommentiert dies wissend: der Mann sei, obwohl er „unter den Russen gedient und mit denen er weiß wie viel Maß Schnaps gesoffen“ habe, eine „Schnapsmemme“).

Карамзин also machte sich gewissermaßen unsterblich durch seine Reisebriefe – und durch eine Erzählung, die er kurz nach der Rückkehr nach Moskau geschrieben hat: Bednaja Lisa – Die arme Lisa.

Die arme Lisa? Nein, man muss sie nicht kennen, aber wenn man bedenkt, dass der Text auch uns in einer modernen Reclam-Edition zugänglich gemacht wurde, steigt die Achtung. Karamsin hat – zufällig genau in der Zeit, in der der Schwarzenbacher Lehrer an seinem Roman bastelte – eine Erzählung verfasst, die prägend wurde: weit über die russische Literatur hinaus. So wenig, wie sich der heutige Amadeus-Zuschauer klar macht, dass noch der Film auf Puschkins Dramolett Mozart und Salieri zurückgeht (und dass Rimski-Korsakow eine nicht ganz so spannende Oper daraus machte), so wenig ist bekannt, dass das dramaturgische Modell dieser kleinen russischen Erzählung noch in freien Hollywood-Adaptionen wirksam ist. Karamsin vollzog, lerne ich gerade, den Übergang vom literarischen Klassizismus zum „Sentimentalismus“. Wir befinden uns, wohl nicht nur in Westeuropa, auch im literarisch gebildeten Russland des späten 18. Jahrhunderts, in einer literarischen Epoche, die sich noch im Sog der sogenannten Empfindsamkeit aufhält, die dem Rationalismus des „wirklichen“ Lebens, den schrecklichen Abhängigkeiten von Stand und Geld, theoretisch Paroli bietet; Jean Paul, der einen missglückten Briefroman über Abaelard und Heloise geschrieben hat, weiß davon. Auch seine späteren Romane haben noch Anteil an dieser wichtigen Strömung: das Pathos der sensitiven Leidenschaft, die Lust an der Melancholie durchtränkt, zumindest gelegentlich, manche Figur. Die junge Beata ist noch eine solche Figur (scheint mir). Die Geschichte der „armen Lisa“ erinnert mich zunächst ein bisschen an Fontanes unvergleichliche Erzählung – dies wäre mein nächster Lesetipp – Irrungen, Wirrungen. Die „bittersüße“ Geschichte einer armen jungen Frau und eines standeshöheren jungen Mannes. Im Falle Lisas sieht das so aus: die vaterlose Frau sorgt für sich und ihre Mutter, indem sie sogenannte „niedere“ Tätigkeiten „ausübt“[4]. Eine Proletarierin, wie man seit 1870 gesagt hätte, eine Frau, der indes das „Klassenbewusstsein“ einer etwas späteren Epoche fehlt. Diese Frau lernt nun einen jungen Mann kennen, einen Angehörigen des Stadtadels, den Herrn Erast. Große Liebe! Plötzlich muss er fort, und als sie sich wiedersehen, muss sie feststellen, dass er mit einer reichen wie zänkischen Witwe verlobt ist. Es kommt, wie man es (heute) erwartet: Lisa bringt sich um. Der Mann aber, dessen erotische Auffassungen sehr lässlich sind – nennen wir ihn schön altertümelnd einen „Wüstling“ – kommt zu sich. Er bereut seine Untreue und strebt schließlich jene moralische Vollkommenheit an, die er in seinem Verhältnis zu Lisa vermissen ließ.

Was, von heute aus gesehen, abgeschmackt klingen mag, war damals durchaus neu. Der moralisierende Ansatz, verbunden mit der intensiven Beschreibung psychologischer Zustände hat die Leser lange begeistert – so lange, bis sie ernsthaft zu glauben anfingen, dass diese Lisa tatsächlich gelebt hat. Eines hat der Autor mit Jean Paul gemein: er glaubte daran, dass die Kunst, insbesondere die Literatur, dazu beitragen könne und müsse, den Menschen zu verbessern. Sie sollte – bei allem, was sie schildere – nicht wertfrei agieren, sondern moralische Fragen diskutieren, um dem Leser einen Ausweg aus seiner eigenen psychisch-moralischen Misere aufzuzeigen[5]. Es mag uns heute problematisch erscheinen, dass Karamsin soziale Probleme, die sich zweifelsfrei in Erasts Hinwendung zur reichen Witwe spiegeln, wenig reflektierte. Jean Paul war in dieser Hinsicht viel schärfer.

Als ich vor wenigen Tagen in einem enormen Crashkurs durch fünf schöne Verfilmungen die wunderbaren Werke der genialen Jane Austen kennen lernte, wurde mir ein anderes Modell zeitgenössischer Gesellschaftsbeschreibung aufgezeigt. Jane Austen hat – etwa ab der Zeit des jungen Jean Paul, bis zu ihrem allzu frühen Tod im Jahre 1818 – jene komplizierten Beziehungen zwischen Liebe und sozialem Stand, Geld und Gefühl ganz anders betrachtet: als andere große, sehr eigene, sehr sympathische Repräsentatin der Jean-Paul-Zeit (und ich stelle mir das Gespräch zwischen diesen beiden Größen vor: es wäre, wenn überhaupt, windschief verlaufen).

Karamsin hatte sein Programm folgendermaßen beschrieben: „Stil, Figuren, Metaphern, Bilder, Ausdrücke – sie alle berühren und bezaubern nur dann, wenn sie vom Gefühl beseelt sind; wenn dieses die Phantasie des Schriftstellers nicht entzündet, werden niemals meine Tränen, wird niemals mein Lächeln seine Belohnung sein.“ Jean Paul, der unendlich scharf Denkende und Schreibende, hätte der ästhetischen Position seines russischen Kollegen wohl kaum widersprochen.

Im Netz entdecke ich schließlich noch folgende Notiz: seine romanhafte Autobiographie Ein Ritter unserer Zeit würde den Einfluss Jean Pauls ganz klar widerspiegeln.

Na also – sie sind sich also schließlich doch noch begegnet, wo Begegnungen schlussendlich am schönsten sind: im Reich des Geistes.



[1] Im Russischen Museum zu St. Petersburg sehe ich einige seiner eindrucksvollen Bilder aus dem russischen Landleben, über die einiges zu sagen wäre. Mein Tipp: Einfach mal hinfahren und anschauen. 

[2] Nebenbei: Als Verfasser einer Russischen Geschichte wurde er auch zum Quellenlieferanten für die Produzenten von Boris Godunow: also für den Dichter und für Modest Mussorgsky. Mit Puschkin hat er die ungeheure, wenn auch zeitbegrenzte Popularität gemein.

[3] Mir fällt beim Schreiben auf: diese Formel – „Als er noch lebte“ – ist eine jeanpaulsche. Wir finden sie in der Unsichtbaren Loge, genauer: im Anhang, dem Wutz. Es ist eine jener Stellen, die stets von Neuem rühren – wie der gesamte Schluss dieser Erzählung, von der mich jetzt schon interessiert, was sie mit dem Roman zu tun hat.

[4] Der Autor weiß, dass dieses „ausübt“ ein dummes, weil viel zu sachliches Wort ist für das, was Lisa zwangsweise tun muss, um schlicht zu überleben, aber da ihm auch nach längerem Überlegen kein besseres eingefallen ist, belässt er es dabei.

[5] Der Blogger fragt sich: Ist dieser Ansatz wirklich von völlig gestern? Oder könnte man ihn nicht für uns Heutige modifizieren?