„3D. Eine Herbstlese“. Von Dagmar Leupold
Mit dem Anspruch, dass „nur Erfundenes wahr“ sei, sondiert die Münchner Autorin Dagmar Leupold ihre künstlerischen Möglichkeiten. Im folgenden Text geht es nicht um erfundene, sondern erlebte Außenwelten: Stürme der Innerlichkeit an der Nordsee, Nähe-Erlebnisse auf Balkonen und um das Gefühl, an einem dunklen Ort der Geschichte nicht mehr selbst zu sehen.
*
Dangast
Hier glaubt man auf der Stelle wieder, dass die Erde eine Scheibe sei. Die Schafe rupfen die begrünten Deiche flach, so dass der Wind ungehindert darüber fahren kann auf dem Weg zur offenen See. In unterschiedlichen Formationen beleben Schnepfen-, Enten-, Fasanen- und Kibitzschwärme den blassen Himmel. An den Rändern Drachen, ganz kleine schwarze Punkte bilden am Horizont die dazugehörenden Väter. Alle Kinder Windsbräute, am liebsten auf und davon den bunten Stofffetzen hinterher. Die gestutzten Platanen geben den Blick frei auf Radfahrer, die sich gegen den Wind stemmen: dem Butterkuchen, dem Ende zu.
Am Pegelhäuschen beginnen viele Liebesgeschichten. Bei Ebbe in die Mauern geritzt, bei Flut gelöscht. Vom Fliegerhorst Wilhelmshaven starten derweil die Düsenjäger, über dem Watt zittert die Luft. Es zieht einem die Stiefel aus. Der Meeresboden enthüllt keine Geheimnisse, nicht einmal Würmer gibt es. Ein Kind schreit „Muscheln!“, aber es meint das Foto.
Bei Nebel sind Himmel, Watt und Meer graubraun wie Putzwasser, und man möchte am liebsten eine Glühbirne an die niedrigste Wolke hängen. Ab jetzt Stürme der Innerlichkeit.
Heute das erste Mal Wind. Den Hunden wehen die Schlappohren hinterher, und der Himmel dehnt sich frisch gelüftet. Ausgestorbene, gefegte Ortschaften, die blanken Fenster der Häuser mit Zimmerpflanzen verbarrikadiert. Wer weiß, welcher Wind wehen müßte, um all den Nippes zu zerstreuen und das Leben darunter wieder zum Vorschein kommen zu lassen. Bernhard‘sche Orkane.
Dank
Wer, wie ich, einen Balkon hat, der nicht zur Straße, sondern zu einer ganzen Serie von Innenhöfen und -gärten hinausgeht, für den wird das Gebot kaum vergangener Zeiten – distanziert euch! – akustisch konterkariert. Wie in einem Amphitheater ist jeder Laut, auch der geflüsterte, im gesamten Rund wunderbar deutlich zu vernehmen. Ich habe Nähe-Erlebnisse der intimsten Art, Stimmen werden mir vertraut, deren Träger ich nicht kenne, auch nicht erkennen würde, träfe ich sie im Supermarkt um die Ecke oder in der Eisdiele zwei Straßen weiter. Man wird zum – ja, wie nennt man die akustische Analogie zum Voyeur? – zum Ohrenzeugen. Zum Ohrenzeugen von in der Coronaepidemie eingeführten und beibehaltenen Erziehungsstrategien („power dein Kind aus“), von Beziehungskisten und -dramen („mich kannst du nicht streamen“) und hilflosen Trostversuchen einsamer Großeltern am Telefon („du hast doch immer so gern Puzzle gelegt“). Neben den hörbaren Stimmen gibt es aber auch stumme Gesellschaft: Auf dem wackligen Balkontischchen liegen drei Bücher, scheinbar spielerisch-wahllos aus dem Regal gezogen, nein, eigentlich entliehen, denn die eigenen Bestände werden in dieser Zeit verheißungsvoll unbekannt wie die einer öffentlichen Bibliothek. Als erstes greife ich nach Walter Benjamins wunderbaren autobiographischen Skizzen Berliner Kindheit um neunzehnhundert, „Loggien“ lautet der Titel des Texts, der den Auftakt macht.
Nichts kräftigte [meine Erinnerung] inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine […] für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. […] Alles wurde mir im Hof zum Wink.
Das Tröstliche und das Zwittrige an Balkonen ist hier genau erfasst, man sitzt allein darauf und ist doch verbunden. Sie gehören einerseits dem intimen, privaten Bereich – Wiege – an und sind doch gleichzeitig Teil des öffentlichen Raums, gewissermaßen sein Aushang: für die Bürger der Stadt. Während meine Ohren die Verbindung zum Draußen halten, versinke ich lesend in Innenwelten. Gerade wird allenthalben das Loblied aufs Lesen angestimmt – zurecht. Ist doch Lesen mobile Immobilität beziehungsweise im Sitzen reisen. Und das tut bei so hochdosiert verordneter Stillhaltung ausgesprochen gut. Und über das Lesen (und Wiederlesen) erweist sich auch der ein oder andere literarische Text als Blaupause für das immer noch nachhallende Pandemie-Geschehen und, nicht weniger wichtig, dessen politische Verwaltung. Ein Geschehen, das wir, mangels Erfahrung, als singulär und überwältigend erlebten. Das, was Lesen jenseits von Kanons, Bildungshuberei und Schulfolter eigentlich ist, kam und kommt nun aufs Schönste zum Vorschein: nämlich ein Wahrnehmungskorrektiv, Unterhaltung, Erfahrungszuwachs und -austausch, Trost. Ich schlage das zweite Buch auf, Heinrich von Kleists Theatertexte, blättere und stoße auf Robert Guiskard, ein Fragment gebliebenes frühes Drama, das vom Heerführer der Normannen, eben jenem Robert Guiskard, berichtet, der Byzanz erobern will, wo längst die Pest wütet. Er selbst hat sich bereits angesteckt, verschweigt dies allerdings, gerüchteweise wird dennoch davon geraunt, die Soldaten sind beunruhigt:
Guiskard lachend.
Vom Pesthauch angeweht! Ihr seid wohl toll, ihr! / Ob ich wie einer ausseh, der die Pest hat? / Der ich in Lebensfüll hier vor euch stehe? / Der seiner Glieder jegliches beherrscht / […] / Mein Leib ward jeder Krankheit mächtig noch. / Und wärs die Pest auch, so versichr‘ ich euch: / an diesen Knochen nagt sie selbst sich krank!
Ein frühes Lehrstück in Sachen alternative Fakten – ich habe beim Lesen dieser Protz-Passage die Pressekonferenzen im Rosengarten des Weißen Hauses förmlich vor Augen, nichts fehlt, bis auf die rote Krawatte in Überlänge.
Die Sonne ist gewandert und beleuchtet das dritte Buch, strenges schwarz-weißes Cover, Mohn und Gedächtnis, von Paul Celan. Der Titel des Gedichts? „Corona“. Mit diesen Versen endet es:
es ist Zeit, daß man weiß! / Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, / daß der Unrast ein Herz schlägt. / Es ist Zeit, daß es Zeit wird. / Es ist Zeit.
So passgenaue Lektüren? Höre ich einwenden. Ja und nein. Lesen ist eben immer auch ein lustvolles Blättern, war da nicht eine Stelle rechts oben? In der Nähe eines Sonnenmilchflecks vom vorletzten Urlaub? Halb Zufall, halb Fahnden – und unversehens begegnen wir dem Gesuchten. Ganz ohne Google Maps.
Eine kräftige Frauenstimme ertönt aus der Tiefe des Hofgartens: Lea-Marie, kommst du zum Essen?
Da habe ich den Braten längst gerochen. Und trolle mich meinerseits in die Küche.
Dunkel
Auschwitz, Birkenau
Erdrückendes Unbehagen: Nicht nur wegen der Menschenmassen, der Ausflügler, der Busladungen voll Touristen – es ist Allerheiligen –, sondern vor allem wegen des Gefühls, nicht mehr selbst zu sehen. Die Mauern, die Asche, das Blut, die Spuren und die Ruinen – alles eine Inszenierung, eine vielmals ausgebeutete Kulisse, ein Business. Überall gehen die Besucher in die Knie, die Kameras gezückt. Die Fotos werden der Beleg dafür sein, dass alles echt ist. Man hat eine Vorstellung von Auschwitz – nun kommt die Anschauung dazu, und man versteht nichts mehr. Es ist da, physisch, greifbar und man fühlt sich wie in einer dreidimensionalen Computeranimation.
Auf dem jüdischen Friedhof in Tarnów, dem größten in Europa, Verfall, wuchernde Brennnesseln, Efeu, Dorniges. Die Natur übernimmt. Da, wo man etwas lesen kann, lässt sich immer niemiec entziffern, in irgendeiner Flektionsform, oft fehlen die Todesdaten von ganzen Familien. Sicher ist nur, dass sie ermordet wurden. Ich gehöre zu den Nachfahren, ich fühle mich verseucht. Vor dem Besuch in Auschwitz Überlegungen wie die, was man anzieht zu einem Besuch in einem Vernichtungslager, ob man danach eine Besichtigungspause einlegt analog zur Schweigeminute; jetzt zu Hause, die Scham über all den angesammelten Komfort, die Küchenmaschinen, die neu gekaufte Einrichtung, die verwöhnten, heißgeliebten Enkel.
Ohne Not muss man sich erst recht der Not erinnern, der vergangenen, der allgegenwärtigen, die wir, vom Wohlstand wie mit Blind- und mit Taubheit geschlagen, übersehen und überhören. Aber natürlich ist der Genuss nichts Schändliches, die Lebensfreude auch nicht – aber wie bringt man, wie bringe ich meinen Nachkommen das Innehalten bei, das Mitgefühl ohne eigene Leidenserfahrung (ein Privileg ohnegleichen). Und selbst erlebtes Leid – wir sehen das an vielen Beispielen der Kriegsgeneration – erzeugt nicht zwingend Einfühlsamkeit den Opfern gegenüber, Wachheit gegenüber Unrecht, sondern verleitet oft erst recht dazu, eigene Untaten zu rechtfertigen.
Es war möglich, es ist passiert, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die nachgewachsene Menschheit zu Ähnlichem nicht mehr fähig wäre.
„3D. Eine Herbstlese“. Von Dagmar Leupold>
Mit dem Anspruch, dass „nur Erfundenes wahr“ sei, sondiert die Münchner Autorin Dagmar Leupold ihre künstlerischen Möglichkeiten. Im folgenden Text geht es nicht um erfundene, sondern erlebte Außenwelten: Stürme der Innerlichkeit an der Nordsee, Nähe-Erlebnisse auf Balkonen und um das Gefühl, an einem dunklen Ort der Geschichte nicht mehr selbst zu sehen.
*
Dangast
Hier glaubt man auf der Stelle wieder, dass die Erde eine Scheibe sei. Die Schafe rupfen die begrünten Deiche flach, so dass der Wind ungehindert darüber fahren kann auf dem Weg zur offenen See. In unterschiedlichen Formationen beleben Schnepfen-, Enten-, Fasanen- und Kibitzschwärme den blassen Himmel. An den Rändern Drachen, ganz kleine schwarze Punkte bilden am Horizont die dazugehörenden Väter. Alle Kinder Windsbräute, am liebsten auf und davon den bunten Stofffetzen hinterher. Die gestutzten Platanen geben den Blick frei auf Radfahrer, die sich gegen den Wind stemmen: dem Butterkuchen, dem Ende zu.
Am Pegelhäuschen beginnen viele Liebesgeschichten. Bei Ebbe in die Mauern geritzt, bei Flut gelöscht. Vom Fliegerhorst Wilhelmshaven starten derweil die Düsenjäger, über dem Watt zittert die Luft. Es zieht einem die Stiefel aus. Der Meeresboden enthüllt keine Geheimnisse, nicht einmal Würmer gibt es. Ein Kind schreit „Muscheln!“, aber es meint das Foto.
Bei Nebel sind Himmel, Watt und Meer graubraun wie Putzwasser, und man möchte am liebsten eine Glühbirne an die niedrigste Wolke hängen. Ab jetzt Stürme der Innerlichkeit.
Heute das erste Mal Wind. Den Hunden wehen die Schlappohren hinterher, und der Himmel dehnt sich frisch gelüftet. Ausgestorbene, gefegte Ortschaften, die blanken Fenster der Häuser mit Zimmerpflanzen verbarrikadiert. Wer weiß, welcher Wind wehen müßte, um all den Nippes zu zerstreuen und das Leben darunter wieder zum Vorschein kommen zu lassen. Bernhard‘sche Orkane.
Dank
Wer, wie ich, einen Balkon hat, der nicht zur Straße, sondern zu einer ganzen Serie von Innenhöfen und -gärten hinausgeht, für den wird das Gebot kaum vergangener Zeiten – distanziert euch! – akustisch konterkariert. Wie in einem Amphitheater ist jeder Laut, auch der geflüsterte, im gesamten Rund wunderbar deutlich zu vernehmen. Ich habe Nähe-Erlebnisse der intimsten Art, Stimmen werden mir vertraut, deren Träger ich nicht kenne, auch nicht erkennen würde, träfe ich sie im Supermarkt um die Ecke oder in der Eisdiele zwei Straßen weiter. Man wird zum – ja, wie nennt man die akustische Analogie zum Voyeur? – zum Ohrenzeugen. Zum Ohrenzeugen von in der Coronaepidemie eingeführten und beibehaltenen Erziehungsstrategien („power dein Kind aus“), von Beziehungskisten und -dramen („mich kannst du nicht streamen“) und hilflosen Trostversuchen einsamer Großeltern am Telefon („du hast doch immer so gern Puzzle gelegt“). Neben den hörbaren Stimmen gibt es aber auch stumme Gesellschaft: Auf dem wackligen Balkontischchen liegen drei Bücher, scheinbar spielerisch-wahllos aus dem Regal gezogen, nein, eigentlich entliehen, denn die eigenen Bestände werden in dieser Zeit verheißungsvoll unbekannt wie die einer öffentlichen Bibliothek. Als erstes greife ich nach Walter Benjamins wunderbaren autobiographischen Skizzen Berliner Kindheit um neunzehnhundert, „Loggien“ lautet der Titel des Texts, der den Auftakt macht.
Nichts kräftigte [meine Erinnerung] inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine […] für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. […] Alles wurde mir im Hof zum Wink.
Das Tröstliche und das Zwittrige an Balkonen ist hier genau erfasst, man sitzt allein darauf und ist doch verbunden. Sie gehören einerseits dem intimen, privaten Bereich – Wiege – an und sind doch gleichzeitig Teil des öffentlichen Raums, gewissermaßen sein Aushang: für die Bürger der Stadt. Während meine Ohren die Verbindung zum Draußen halten, versinke ich lesend in Innenwelten. Gerade wird allenthalben das Loblied aufs Lesen angestimmt – zurecht. Ist doch Lesen mobile Immobilität beziehungsweise im Sitzen reisen. Und das tut bei so hochdosiert verordneter Stillhaltung ausgesprochen gut. Und über das Lesen (und Wiederlesen) erweist sich auch der ein oder andere literarische Text als Blaupause für das immer noch nachhallende Pandemie-Geschehen und, nicht weniger wichtig, dessen politische Verwaltung. Ein Geschehen, das wir, mangels Erfahrung, als singulär und überwältigend erlebten. Das, was Lesen jenseits von Kanons, Bildungshuberei und Schulfolter eigentlich ist, kam und kommt nun aufs Schönste zum Vorschein: nämlich ein Wahrnehmungskorrektiv, Unterhaltung, Erfahrungszuwachs und -austausch, Trost. Ich schlage das zweite Buch auf, Heinrich von Kleists Theatertexte, blättere und stoße auf Robert Guiskard, ein Fragment gebliebenes frühes Drama, das vom Heerführer der Normannen, eben jenem Robert Guiskard, berichtet, der Byzanz erobern will, wo längst die Pest wütet. Er selbst hat sich bereits angesteckt, verschweigt dies allerdings, gerüchteweise wird dennoch davon geraunt, die Soldaten sind beunruhigt:
Guiskard lachend.
Vom Pesthauch angeweht! Ihr seid wohl toll, ihr! / Ob ich wie einer ausseh, der die Pest hat? / Der ich in Lebensfüll hier vor euch stehe? / Der seiner Glieder jegliches beherrscht / […] / Mein Leib ward jeder Krankheit mächtig noch. / Und wärs die Pest auch, so versichr‘ ich euch: / an diesen Knochen nagt sie selbst sich krank!
Ein frühes Lehrstück in Sachen alternative Fakten – ich habe beim Lesen dieser Protz-Passage die Pressekonferenzen im Rosengarten des Weißen Hauses förmlich vor Augen, nichts fehlt, bis auf die rote Krawatte in Überlänge.
Die Sonne ist gewandert und beleuchtet das dritte Buch, strenges schwarz-weißes Cover, Mohn und Gedächtnis, von Paul Celan. Der Titel des Gedichts? „Corona“. Mit diesen Versen endet es:
es ist Zeit, daß man weiß! / Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, / daß der Unrast ein Herz schlägt. / Es ist Zeit, daß es Zeit wird. / Es ist Zeit.
So passgenaue Lektüren? Höre ich einwenden. Ja und nein. Lesen ist eben immer auch ein lustvolles Blättern, war da nicht eine Stelle rechts oben? In der Nähe eines Sonnenmilchflecks vom vorletzten Urlaub? Halb Zufall, halb Fahnden – und unversehens begegnen wir dem Gesuchten. Ganz ohne Google Maps.
Eine kräftige Frauenstimme ertönt aus der Tiefe des Hofgartens: Lea-Marie, kommst du zum Essen?
Da habe ich den Braten längst gerochen. Und trolle mich meinerseits in die Küche.
Dunkel
Auschwitz, Birkenau
Erdrückendes Unbehagen: Nicht nur wegen der Menschenmassen, der Ausflügler, der Busladungen voll Touristen – es ist Allerheiligen –, sondern vor allem wegen des Gefühls, nicht mehr selbst zu sehen. Die Mauern, die Asche, das Blut, die Spuren und die Ruinen – alles eine Inszenierung, eine vielmals ausgebeutete Kulisse, ein Business. Überall gehen die Besucher in die Knie, die Kameras gezückt. Die Fotos werden der Beleg dafür sein, dass alles echt ist. Man hat eine Vorstellung von Auschwitz – nun kommt die Anschauung dazu, und man versteht nichts mehr. Es ist da, physisch, greifbar und man fühlt sich wie in einer dreidimensionalen Computeranimation.
Auf dem jüdischen Friedhof in Tarnów, dem größten in Europa, Verfall, wuchernde Brennnesseln, Efeu, Dorniges. Die Natur übernimmt. Da, wo man etwas lesen kann, lässt sich immer niemiec entziffern, in irgendeiner Flektionsform, oft fehlen die Todesdaten von ganzen Familien. Sicher ist nur, dass sie ermordet wurden. Ich gehöre zu den Nachfahren, ich fühle mich verseucht. Vor dem Besuch in Auschwitz Überlegungen wie die, was man anzieht zu einem Besuch in einem Vernichtungslager, ob man danach eine Besichtigungspause einlegt analog zur Schweigeminute; jetzt zu Hause, die Scham über all den angesammelten Komfort, die Küchenmaschinen, die neu gekaufte Einrichtung, die verwöhnten, heißgeliebten Enkel.
Ohne Not muss man sich erst recht der Not erinnern, der vergangenen, der allgegenwärtigen, die wir, vom Wohlstand wie mit Blind- und mit Taubheit geschlagen, übersehen und überhören. Aber natürlich ist der Genuss nichts Schändliches, die Lebensfreude auch nicht – aber wie bringt man, wie bringe ich meinen Nachkommen das Innehalten bei, das Mitgefühl ohne eigene Leidenserfahrung (ein Privileg ohnegleichen). Und selbst erlebtes Leid – wir sehen das an vielen Beispielen der Kriegsgeneration – erzeugt nicht zwingend Einfühlsamkeit den Opfern gegenüber, Wachheit gegenüber Unrecht, sondern verleitet oft erst recht dazu, eigene Untaten zu rechtfertigen.
Es war möglich, es ist passiert, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die nachgewachsene Menschheit zu Ähnlichem nicht mehr fähig wäre.
