Mit „Die Ausweichschule“ stand Kaleb Erdmann auf der Shortlist des Deutschen Buchpreise 2025. Günter Keil rezensiert den Roman
Mit seinem zweiten Roman Die Ausweichschule schaffte es Kaleb Erdmann auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025. Der teilweise in Bayern aufgewachsene Autor, Jahrgang 1991, studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig sowie Politikwissenschaften und Politische Theorie in München und Frankfurt am Main. Erdmanns autofiktionales Werk Die Ausweichschule zeigt eine außergewöhnliche Form literarischer Aufarbeitung.
*
Nein, er möchte nicht mehr ausweichen. Der Ich-Erzähler, ein Mittdreißiger, plant das Gegenteil: Eine Konfrontation, eine Befragung seiner eigenen Erinnerung, eine Reflexion über den Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 2002. Er selbst war an diesem Tag auch in der Schule, als Elfjähriger, und nun spürt er, dass er einen Zugang zum Erzählen und Erzählbaren finden kann. Bis jetzt, so wird ihm bewusst, hat er das stets vermieden. Er fragt sich, ob er damals, in der Ausweichschule im Südosten Erfurts, in der für knapp 700 Schüler der Unterricht in den Wochen nach dem Massaker weitergeführt wurde, das Ausweichen gelernt hat. Begann möglicherweise dort das Schweigen und Verdrängen? Hätte er sich schon früher seinen traumatischen Erlebnissen stellen sollen? Die andere Schule, der Tatort, wurde für ihn zum Ort des Grauens, ein Horrorhaus, das es offenbar möglichst zu vergessen galt.
Schon auf den ersten 20 Seiten beschreibt Kaleb Erdmann mehrere verschiedene Versuche der Hauptfigur, ihre Geschichte zu erzählen und ihre Erinnerungen in eine literarische Form zu bringen. Zunächst vergleicht der Erzähler seine Aufgabe mit dem Aufguss eines Tees. Dies sei eine schöne Metapher, wenn man sich mit vergrabenen, potentiell schmerzhaften Erinnerungen beschäftige. Denn nachdem man auf trockenen Tee heißes Wasser geschüttet habe, komme etwas in Gang. Tatsächlich bewegt sich auch in ihm etwas; nach langer Zeit öffnet er wieder die Datei „Erfurt“ auf seinem Laptop, begutachtet seinen Text, prüft die verschiedenen Ordner. Von einer Struktur oder einem erkennbaren Stil kann allerdings keine Rede sein. Und nach dem Treffen mit einem Lektor ist der junge Mann hilflos und verunsichert. Denn dem Sprachexperten fällt nach der Lektüre der Textprobe nichts Besseres ein, als dem Autor zu raten, lieber „ein bisschen so wie Joachim Meyerhoff“ zu schreiben. Mit Witz, und nicht so ernsthaft wie bislang.
Was also ist der richtige Weg, der richtige Umgang mit den eigenen Erinnerungen? Wie schreibt man angemessen über Gewalt und die Traumata einer ganzen Schule? Diese Fragen treiben Erdmanns Protagonist über knapp 300 Seiten hinweg an und um. Hatice, die Freundin des Erzählers, fragt ihn angesichts neuer Panikattacken und Ängste besorgt: Was bringt Dir das alles? Darauf findet er keine klare Antwort, vergräbt sich stattdessen zum wiederholten Mal in Dokumente zum Amoklauf.
Als Abschluss der offiziellen Untersuchungen gilt der Bericht der Gasser-Kommission von 2004, erstellt im Auftrag des Thüringer Justizministeriums. Allein dem Tatablauf, der Ermordung von 16 Menschen und dem Suizid des Täters, widmet der Bericht 93 Seiten. Die Schilderungen greifen unmittelbar in die Erinnerungen des Autors ein, er bekommt schwer Luft und kämpft mit sich erneut, ob er seine Geschichte überhaupt erzählen darf. Denn an Tote und Blutbäder kann er sich nicht erinnern; er konnte mit seinen Klassenkameradinnen und -kameraden aus der Schule flüchten, noch bevor Robert Steinhäuser sich am Ende des Amoklaufs selbst erschoss.
Kaleb Erdmann lässt die Lesenden direkt teilhaben am Versuch seiner Figur, den für sie passenden Zugang zum Erlebten zu finden. Die Erzählstimme wirkt authentisch in ihrem Bemühen, Erinnerungen, Recherche und Medienberichte in Einklang zu bringen. Erdmann inszeniert ein raffiniertes Spiel mit Perspektiven – aus zahlreichen Gesprächen, etwa mit einem ehemaligen Mitschüler, der keine Lust hat über das Erlebte nachzudenken, mit einem Dramatiker, der die Verarbeitung des Amoklaufs als Theaterstück auf die Bühne bringt, oder mit der Mutter des Erzählers, die die Selbsterkundung ihres Sohnes für sinnlos hält. Heraus kommt dabei keine klassisch aufgebaute Dramaturgie, sondern ein Nachdenken übers Nachdenken. Eine Metageschichte, die einerseits der Chronik eines Scheiterns gleicht (das Romanprojekt des fiktiven Autors findet keine Form), andererseits selbst zur faszinierenden Lektüre werden kann, wenn man sich auf die reflektierte Geschichte einlässt. Folgerichtig liefert Kaleb Erdmann weder Lösung noch Erlösung, sondern zitiert im Buch W. G. Sebald:
„Je mehr Bilder aus der Vergangenheit ich versammle, sagte ich, desto unwahrscheinlicher wird es mir, dass die Vergangenheit auf diese Weise sich abgespielt haben soll, denn nichts an ihr sei normal zu nennen, sondern es sei das allermeiste lächerlich, und wenn es nicht lächerlich sei, dann sei es zum Entsetzen.“
Es gibt nur wenige Momente, in denen sich der Ich-Erzähler wiedererkennt und ein wenig zur Ruhe (oder an das nicht definierte Ziel seines Projekts) gekommen zu sein scheint. Etwa dann, wenn er in den Berichten der Traumatherapeutin Gabriele Kluwe-Schleberger liest, die 2002 vom Thüringischen Sozialministerium gebeten wurde, die psychologische Betreuung zu organisieren. Ihre Worte decken sich am ehesten mit seinen eigenen Erfahrungen, und vielleicht ist es auch der dokumentierte Wille Gabriele Kluwe-Schlebergers, der den Autor vorübergehend zu trösten vermag: dass es eine Chance auf Heilung gibt. Keine Gewissheit, aber eine Möglichkeit. Das mag die Intention dieses Romans spiegeln, die eigene Verwirrung und Überforderung zu teilen, und allein dadurch vielleicht etwas Positives bewirkt zu haben.
Kaleb Erdmann: Die Ausweichschule, Verlag park x ullstein, 2025, 304 S., ISBN: 9783988160225
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Mit seinem zweiten Roman Die Ausweichschule schaffte es Kaleb Erdmann auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025. Der teilweise in Bayern aufgewachsene Autor, Jahrgang 1991, studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig sowie Politikwissenschaften und Politische Theorie in München und Frankfurt am Main. Erdmanns autofiktionales Werk Die Ausweichschule zeigt eine außergewöhnliche Form literarischer Aufarbeitung.
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Nein, er möchte nicht mehr ausweichen. Der Ich-Erzähler, ein Mittdreißiger, plant das Gegenteil: Eine Konfrontation, eine Befragung seiner eigenen Erinnerung, eine Reflexion über den Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 2002. Er selbst war an diesem Tag auch in der Schule, als Elfjähriger, und nun spürt er, dass er einen Zugang zum Erzählen und Erzählbaren finden kann. Bis jetzt, so wird ihm bewusst, hat er das stets vermieden. Er fragt sich, ob er damals, in der Ausweichschule im Südosten Erfurts, in der für knapp 700 Schüler der Unterricht in den Wochen nach dem Massaker weitergeführt wurde, das Ausweichen gelernt hat. Begann möglicherweise dort das Schweigen und Verdrängen? Hätte er sich schon früher seinen traumatischen Erlebnissen stellen sollen? Die andere Schule, der Tatort, wurde für ihn zum Ort des Grauens, ein Horrorhaus, das es offenbar möglichst zu vergessen galt.
Schon auf den ersten 20 Seiten beschreibt Kaleb Erdmann mehrere verschiedene Versuche der Hauptfigur, ihre Geschichte zu erzählen und ihre Erinnerungen in eine literarische Form zu bringen. Zunächst vergleicht der Erzähler seine Aufgabe mit dem Aufguss eines Tees. Dies sei eine schöne Metapher, wenn man sich mit vergrabenen, potentiell schmerzhaften Erinnerungen beschäftige. Denn nachdem man auf trockenen Tee heißes Wasser geschüttet habe, komme etwas in Gang. Tatsächlich bewegt sich auch in ihm etwas; nach langer Zeit öffnet er wieder die Datei „Erfurt“ auf seinem Laptop, begutachtet seinen Text, prüft die verschiedenen Ordner. Von einer Struktur oder einem erkennbaren Stil kann allerdings keine Rede sein. Und nach dem Treffen mit einem Lektor ist der junge Mann hilflos und verunsichert. Denn dem Sprachexperten fällt nach der Lektüre der Textprobe nichts Besseres ein, als dem Autor zu raten, lieber „ein bisschen so wie Joachim Meyerhoff“ zu schreiben. Mit Witz, und nicht so ernsthaft wie bislang.
Was also ist der richtige Weg, der richtige Umgang mit den eigenen Erinnerungen? Wie schreibt man angemessen über Gewalt und die Traumata einer ganzen Schule? Diese Fragen treiben Erdmanns Protagonist über knapp 300 Seiten hinweg an und um. Hatice, die Freundin des Erzählers, fragt ihn angesichts neuer Panikattacken und Ängste besorgt: Was bringt Dir das alles? Darauf findet er keine klare Antwort, vergräbt sich stattdessen zum wiederholten Mal in Dokumente zum Amoklauf.
Als Abschluss der offiziellen Untersuchungen gilt der Bericht der Gasser-Kommission von 2004, erstellt im Auftrag des Thüringer Justizministeriums. Allein dem Tatablauf, der Ermordung von 16 Menschen und dem Suizid des Täters, widmet der Bericht 93 Seiten. Die Schilderungen greifen unmittelbar in die Erinnerungen des Autors ein, er bekommt schwer Luft und kämpft mit sich erneut, ob er seine Geschichte überhaupt erzählen darf. Denn an Tote und Blutbäder kann er sich nicht erinnern; er konnte mit seinen Klassenkameradinnen und -kameraden aus der Schule flüchten, noch bevor Robert Steinhäuser sich am Ende des Amoklaufs selbst erschoss.
Kaleb Erdmann lässt die Lesenden direkt teilhaben am Versuch seiner Figur, den für sie passenden Zugang zum Erlebten zu finden. Die Erzählstimme wirkt authentisch in ihrem Bemühen, Erinnerungen, Recherche und Medienberichte in Einklang zu bringen. Erdmann inszeniert ein raffiniertes Spiel mit Perspektiven – aus zahlreichen Gesprächen, etwa mit einem ehemaligen Mitschüler, der keine Lust hat über das Erlebte nachzudenken, mit einem Dramatiker, der die Verarbeitung des Amoklaufs als Theaterstück auf die Bühne bringt, oder mit der Mutter des Erzählers, die die Selbsterkundung ihres Sohnes für sinnlos hält. Heraus kommt dabei keine klassisch aufgebaute Dramaturgie, sondern ein Nachdenken übers Nachdenken. Eine Metageschichte, die einerseits der Chronik eines Scheiterns gleicht (das Romanprojekt des fiktiven Autors findet keine Form), andererseits selbst zur faszinierenden Lektüre werden kann, wenn man sich auf die reflektierte Geschichte einlässt. Folgerichtig liefert Kaleb Erdmann weder Lösung noch Erlösung, sondern zitiert im Buch W. G. Sebald:
„Je mehr Bilder aus der Vergangenheit ich versammle, sagte ich, desto unwahrscheinlicher wird es mir, dass die Vergangenheit auf diese Weise sich abgespielt haben soll, denn nichts an ihr sei normal zu nennen, sondern es sei das allermeiste lächerlich, und wenn es nicht lächerlich sei, dann sei es zum Entsetzen.“
Es gibt nur wenige Momente, in denen sich der Ich-Erzähler wiedererkennt und ein wenig zur Ruhe (oder an das nicht definierte Ziel seines Projekts) gekommen zu sein scheint. Etwa dann, wenn er in den Berichten der Traumatherapeutin Gabriele Kluwe-Schleberger liest, die 2002 vom Thüringischen Sozialministerium gebeten wurde, die psychologische Betreuung zu organisieren. Ihre Worte decken sich am ehesten mit seinen eigenen Erfahrungen, und vielleicht ist es auch der dokumentierte Wille Gabriele Kluwe-Schlebergers, der den Autor vorübergehend zu trösten vermag: dass es eine Chance auf Heilung gibt. Keine Gewissheit, aber eine Möglichkeit. Das mag die Intention dieses Romans spiegeln, die eigene Verwirrung und Überforderung zu teilen, und allein dadurch vielleicht etwas Positives bewirkt zu haben.
Kaleb Erdmann: Die Ausweichschule, Verlag park x ullstein, 2025, 304 S., ISBN: 9783988160225
