Der beeindruckende zeichnerisch-biografische Band des Münchner Künstlers Siegfried Kaden
In Dresden kurz vor der Zerstörung geboren, in die Bundesrepublik ausgewandert, in München nicht heimisch geworden – was tut einer in so einem Fall? Der Künstler Siegfried Kaden wanderte nach Havanna aus, wo er bis kurz vor seinem Tod blieb. Sein Leben erzählt er in Zeichnungen, versammelt in dem Band Mit dem Pferd nach Havanna, der am 30. Oktober 2025 im Lenbachhaus präsentiert wird.
*
Eine Bekannte sagte einmal, dass es zwei Arten von Menschen gibt: diejenigen, die eine Geschichte haben, und diejenigen, die viele Geschichten haben. Was Siegfried Kaden im Jahr 1945 im Alter von einem Jahr widerfahren ist, hätte ihn leicht zu einem „Menschen mit einer Geschichte” machen können, aber das ist nicht geschehen. Das Album Auf dem Pferd nach Havanna enthält eine Vielzahl von Geschichten. Es sind so viele, dass man kaum glauben kann, dass das Album nur fünfhundert und nicht mehrere tausend Seiten umfasst. Alles ist mit einem Kugelschreiber gezeichnet und geschrieben. Die Handschrift ist größtenteils gut lesbar, aber auf der Rückseite der Blätter befindet sich eine gedruckte Version des Textes. Dabei ist ein Kugelschreiber ein Werkzeug, das zum Schreiben von Wörtern und nicht zum Zeichnen gedacht ist, sodass es außerhalb des Alphabets ein seltsames Gefühl einer „anderen Art von Schrift“ oder einer anderen Botschaft hervorruft. Nicht asemisches Schreiben, hier ist alles figurativ, aber dennoch werden die Konturen der Figuren, die mit derselben Linie gezeichnet sind, mit der auch die Wörter geschrieben sind, und die mit den Zeichnungen an den Rändern des Manuskripts vertauscht sind, gleichzeitig zu Konturkarten für die Vorstellungskraft der Lesenden und Betrachtenden und zu absolut eigenständigen Artefakten.
Mit einem Wort: Die Zeichnungen von Kaden sind an sich schon faszinierend. Genauso wie die Geschichten, die sein flinker Stift über die „Konturkarten“ erzählt, wenn er zu den Buchstaben zurückkehrt. Ein paar Beispiele: Es scheint eine von mehreren Geschichten über den Umzug einer Familie von der DDR in die Bundesrepublik zu sein, aber es steckt so viel mehr dahinter ... Die Stasi, die Siegfrieds Vater durch Folter dazu zwingt, Spion zu werden, woraufhin dieser seine Familie in den Westen bringt, wo er seine Geschichte sofort den Amerikanern erzählt. Die Geschichte von Siegfried selbst, der einige Jahre später verhaftet wird, weil er fälschlicherweise für einen „Rotarmisten“, ein bekanntes Mitglied der RAF, gehalten wird. Die Geschichte seines Erwachsenwerdens in Internaten, wo alle geschlagen werden und nur Musterschüler küssen dürfen. Die Geschichte seiner Begegnungen mit Buchheim, der seine Gäste etwas trinken lässt, das stark nach „Pisse“ schmeckt. Die Geschichte seiner Entwicklung zum Künstler, die nicht ohne eine Begegnung mit Beuys auskommt. Und weiter – Geschichten des Künstlers Kaden mit den unterschiedlichsten Handlungen, ganz zu schweigen von der Geografie ... Geschichten von anderen Künstlern, darunter „Künstler einer Geschichte”: Der eine malt ausschließlich Selbstporträts, der andere ausschließlich Porträts von Claudia Schiffer, und wirft sie ins Meer, um sie zu ertränken. Und so weiter.
Natürlich gibt es in dem Buch auch diese Geschichte, die ich unwillkürlich mit einem Marker auf der rechten Seite des Bildes nacherzählt habe, das während des Lesens des Albums unwillkürlich entstanden ist. Nachdem sie 1945 die Bombardierung Dresdens überlebt hatten (einige sehr eindrucksvolle Zeichnungen ganz am Anfang des Buches), begab sich die Familie Kaden in ein Dorf, in der Hoffnung, dort etwas zu essen zu finden. Bevor russische Soldaten in das Dorf einmarschierten, versteckten sich die jungen Frauen in einer Grube, die von oben mit Brettern und einem Berg Mist bedeckt war. In den Häusern blieben nur Kinder und alte Frauen zurück. Die Soldaten konnten die Mädchen nicht finden, aber irgendwie wussten sie, dass sie da waren. Ein Soldat packte den einjährigen Siegfried und sagte, wenn die alten Frauen die Mädchen nicht auslieferten, würde er ihn erschießen. Dann sagte er, er würde ihn nicht erschießen, sondern mitnehmen. Eine alte Bäuerin überredete ihn, das Kind gegen ein Pferd einzutauschen. Ja, gegen ein lebendes, echtes Pferd. Sie brachte es herbei, und das Pferd war so schön, dass der Soldat mit der Hand winkte und zustimmte, aufsprang und davonritt.
Das Buch-Album-Leben-als-Comic Mit dem Pferd nach Havanna mit einem Vorwort von Verena Nolte ist im Steidl Verlag erschienen, leider posthum.
Hier kann man ein wenig darin blättern.
Buchpräsentation: Mit dem Pferd nach Havanna im Lenbachhaus, 30.10.2025, 20 Uhr
Siegfried Kaden: Mit dem Pferd nach Havanna, Steidl Verlag, 2025
Der beeindruckende zeichnerisch-biografische Band des Münchner Künstlers Siegfried Kaden>
In Dresden kurz vor der Zerstörung geboren, in die Bundesrepublik ausgewandert, in München nicht heimisch geworden – was tut einer in so einem Fall? Der Künstler Siegfried Kaden wanderte nach Havanna aus, wo er bis kurz vor seinem Tod blieb. Sein Leben erzählt er in Zeichnungen, versammelt in dem Band Mit dem Pferd nach Havanna, der am 30. Oktober 2025 im Lenbachhaus präsentiert wird.
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Eine Bekannte sagte einmal, dass es zwei Arten von Menschen gibt: diejenigen, die eine Geschichte haben, und diejenigen, die viele Geschichten haben. Was Siegfried Kaden im Jahr 1945 im Alter von einem Jahr widerfahren ist, hätte ihn leicht zu einem „Menschen mit einer Geschichte” machen können, aber das ist nicht geschehen. Das Album Auf dem Pferd nach Havanna enthält eine Vielzahl von Geschichten. Es sind so viele, dass man kaum glauben kann, dass das Album nur fünfhundert und nicht mehrere tausend Seiten umfasst. Alles ist mit einem Kugelschreiber gezeichnet und geschrieben. Die Handschrift ist größtenteils gut lesbar, aber auf der Rückseite der Blätter befindet sich eine gedruckte Version des Textes. Dabei ist ein Kugelschreiber ein Werkzeug, das zum Schreiben von Wörtern und nicht zum Zeichnen gedacht ist, sodass es außerhalb des Alphabets ein seltsames Gefühl einer „anderen Art von Schrift“ oder einer anderen Botschaft hervorruft. Nicht asemisches Schreiben, hier ist alles figurativ, aber dennoch werden die Konturen der Figuren, die mit derselben Linie gezeichnet sind, mit der auch die Wörter geschrieben sind, und die mit den Zeichnungen an den Rändern des Manuskripts vertauscht sind, gleichzeitig zu Konturkarten für die Vorstellungskraft der Lesenden und Betrachtenden und zu absolut eigenständigen Artefakten.
Mit einem Wort: Die Zeichnungen von Kaden sind an sich schon faszinierend. Genauso wie die Geschichten, die sein flinker Stift über die „Konturkarten“ erzählt, wenn er zu den Buchstaben zurückkehrt. Ein paar Beispiele: Es scheint eine von mehreren Geschichten über den Umzug einer Familie von der DDR in die Bundesrepublik zu sein, aber es steckt so viel mehr dahinter ... Die Stasi, die Siegfrieds Vater durch Folter dazu zwingt, Spion zu werden, woraufhin dieser seine Familie in den Westen bringt, wo er seine Geschichte sofort den Amerikanern erzählt. Die Geschichte von Siegfried selbst, der einige Jahre später verhaftet wird, weil er fälschlicherweise für einen „Rotarmisten“, ein bekanntes Mitglied der RAF, gehalten wird. Die Geschichte seines Erwachsenwerdens in Internaten, wo alle geschlagen werden und nur Musterschüler küssen dürfen. Die Geschichte seiner Begegnungen mit Buchheim, der seine Gäste etwas trinken lässt, das stark nach „Pisse“ schmeckt. Die Geschichte seiner Entwicklung zum Künstler, die nicht ohne eine Begegnung mit Beuys auskommt. Und weiter – Geschichten des Künstlers Kaden mit den unterschiedlichsten Handlungen, ganz zu schweigen von der Geografie ... Geschichten von anderen Künstlern, darunter „Künstler einer Geschichte”: Der eine malt ausschließlich Selbstporträts, der andere ausschließlich Porträts von Claudia Schiffer, und wirft sie ins Meer, um sie zu ertränken. Und so weiter.
Natürlich gibt es in dem Buch auch diese Geschichte, die ich unwillkürlich mit einem Marker auf der rechten Seite des Bildes nacherzählt habe, das während des Lesens des Albums unwillkürlich entstanden ist. Nachdem sie 1945 die Bombardierung Dresdens überlebt hatten (einige sehr eindrucksvolle Zeichnungen ganz am Anfang des Buches), begab sich die Familie Kaden in ein Dorf, in der Hoffnung, dort etwas zu essen zu finden. Bevor russische Soldaten in das Dorf einmarschierten, versteckten sich die jungen Frauen in einer Grube, die von oben mit Brettern und einem Berg Mist bedeckt war. In den Häusern blieben nur Kinder und alte Frauen zurück. Die Soldaten konnten die Mädchen nicht finden, aber irgendwie wussten sie, dass sie da waren. Ein Soldat packte den einjährigen Siegfried und sagte, wenn die alten Frauen die Mädchen nicht auslieferten, würde er ihn erschießen. Dann sagte er, er würde ihn nicht erschießen, sondern mitnehmen. Eine alte Bäuerin überredete ihn, das Kind gegen ein Pferd einzutauschen. Ja, gegen ein lebendes, echtes Pferd. Sie brachte es herbei, und das Pferd war so schön, dass der Soldat mit der Hand winkte und zustimmte, aufsprang und davonritt.
Das Buch-Album-Leben-als-Comic Mit dem Pferd nach Havanna mit einem Vorwort von Verena Nolte ist im Steidl Verlag erschienen, leider posthum.
Hier kann man ein wenig darin blättern.
Buchpräsentation: Mit dem Pferd nach Havanna im Lenbachhaus, 30.10.2025, 20 Uhr
Siegfried Kaden: Mit dem Pferd nach Havanna, Steidl Verlag, 2025
