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08.08.2025, 14:35 Uhr
Ursula Wiest
Spektakula

Brandner Kaspar und Monaco Flori: Von bayerischen Überlebenskünstlern auf Münchner Bühnen

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"Sauhund" an den Münchner Kammerspielen © Armin-Smailovic

Zwei neue Münchner Theaterereignisse führen tief in die bayerische Seele. Und sparen auch deren Abgründe nicht aus. Dr. Ursula Wiest hat sich Gschichtn vom Brandner Kaspar am Münchner Residenztheater sowie Sauhund an den Kammerspielen angeschaut.

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Rechts der Maximilianstraße, auf der Bühne vom Staatsschauspiel, passt das Land der Bayern zur Zeit in einen überdimensionalen Tabernakelschrein mit Schutzmantelmadonna und abschließbarer Tür. Drinnen wird in der Bergwelt herumgekraxelt, gejagert, geschnapselt und gezockt, denn es gilt die Liberalitas Bavarica zu feiern, die landestypische Freiheitsliebe. Den Widerspruchsgeist. Den Überlebenswillen, aber auch die mentale Verletzlichkeit, der immer wieder künstlerische Denkmale gesetzt wurden. Im 19. Jahrhundert von Franz von Kobell, der, selbst multitalentierter Paradebayer, mit Liedersammlungen, Mundartgedichten und der ikonischen Gschicht vom Brandner Kasper die romantische Seite der kulturellen Identitätsbildung prägte. Von Helmut Dietl, dem Kultregisseur, der seine eigene melancholisch gefärbte Heimatverbundenheit in seine Serien-Protagonisten schrieb. Von Franz Xaver Kroetz, dessen sozialkritisches Bauerntheater in den 1970er-Jahren die Schattenseiten ländlicher Milieus ausleuchtete und als sensationslüsterner Klatschreporter aus dem Dietl-Kosmos zur Schauspiellegende aufstieg. Wie weiland Günther Maria Halmer mit seinem epochalen Desperado-Ritt durchs Schwabinger Siegestor.

Tscharli. Baby. Monaco. Helmut. Kasper. Günther. Franz. Aber auch Toni, Gustl und Fritz, das ebenfalls Dietl-erprobte Dreigestirn aus der unvergessenen Kurt-Wilhelm-Inszenierung der Brandner-Gschicht anno 1975. Ihrer aller Einschreibungen ins kulturelle Gedächtnis Bayerns schwingen mit, wenn sich am Resi das bäuerlich bemalte Portal des von Phillip Stölzl als Guckkastenbühne konstruierten Reliquienschreins öffnet. Und den Blick auf den neuesten Hallodri-Coup der beiden letzten überlebenden Schlitzohren der Dietl-Ära freigibt: Franz Xavers Neufassung des Kobell-Klassikers als sanft in ein diffuses „Jetzo“ geholtes Volksstück. Mit einem wunderbar querköpfig und schlau agierenden Günther Maria in der Rolle des Brandner. Und mit Florian von Manteuffel, der den Boanlkramer, Brandners Antipoden als psychisch labile, gebrochene und verpeilte Version eines bayerischen Schlawiners darstellt. Als suchtgefährdeten Türklinkenputzer im abgeranzten Straßenanzug. Schillernd. Selbstironisch. Suggestiv. Das eigentliche Kraftzentrum dieses Events.

Florian von Manteuffel und Günther Maria Halmer in Gschichtn vom Brandner Kaspar, Residenztheater. © Sandra Then  

Auf der anderen Seite der Maximilianstraße, im Geviert der Kammerspiele, geht es traditionsgemäß weit weniger süddeutsch-barock zu. Und das „verglühte Oberbayrisch“, das Kroetz sich von den Darstellenden seiner Brandner-Kreation wünschte, hat dort eher niemand aus dem jungen, multinationalen Ensemble drauf. Dennoch geht es auch hier um dringliche letzte Fragen in der Vita eines bayerischen Hasardeurs. Und um den Blick auf ein heute entrückt wirkendes, schillerndes, feierndes und gefährdetes Bayern und München.

Gespielt wird hier vor großformatigen, sepiafarbigen Fotoinstallationen von Sehnsuchtsorten und Schlüsselsituationen der jüngeren schwulen Historie der Stadt. Der Hauptdarsteller trägt Damenpelz, Männertanktop oder ein Trägerkleid aus rubinrot schimmerndem Seidentaft. Und tanzt ekstatisch zu „Ich will alles“, dem einstigen Selbstbefreiungs-Popsong von Gitte Haenning. Während Videosequenzen von schwulenfeindlichen Demos im München der 1980er-Jahre den wehmütigen Gesichtsausdruck von Freddie Mercury beim letzten historisch verbürgten Live-Konzert seiner Band überblenden. Denn: Inszeniert wird das queere Durchleben der AIDS-Krisenjahre in Bayern. Nach Motiven aus Sauhund, dem funkelnden Romandebüt des Münchner Literaturstipendiaten Lion Christ.

Dessen sehr junger, schwuler Protagonist heißt Flori und trägt die DNA von Tscharli, Baby und Monaco in sich. Ab 1983 mogelt, flirtet und poppt er sich durch sein Coming-Out zwischen Wolfratshausen und Glockenbach. Er feiert im Henderson. Er cruist im Stachus-Untergeschoss. Er schockiert seine Mutter. Er enttäuscht seine Freundin. Er lässt überstürzt seinen ersten Liebhaber im Stich. Und er hat Angst vor AIDS. So wie viele der landflüchtigen Paradiesvögel jener Zeit, die in Münchens Rosa-Viertel strandeten und deren Lebensstil Lion Christs Buch ein berührend authentisches Denkmal setzt. Mit Elias Krischke in der Rolle des verletzbaren Filou mit ständiger Angst vor der eigenen Courage finden sie in der Romanadaption der Münchner Kammerspiele ein kongeniales Alter Ego. Getragen vom Widerschein der subtil triggernden Bildwelten und vom Rauschen medialer O-Töne performt Krischke die Höhen und Tiefen einer schwulen Selbstfindung im Schatten von AIDS. Während Annette Paulmann im Quick-Change-Modus Floris ganzes weibliches Netzwerk darstellt und Edmund Telgenkämper sämtliche Versionen der überwältigenden, verführerischen, manchmal auch abstoßenden und düsteren Präsenz von Floris seriellen Liebhabern liefert.

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Zwei Inszenierungen an zwei namhaften Münchner Schauspielhäusern. Zwei „Gschichtn“ aus prädigitalen Zeiten von bajuwarischer Männlichkeit und deren Nähe zum Tod. Am Resi hat nach zwei Stunden Spieldauer der Boanlkramer das letzte Wort. Oder ist es Helmut Dietl? „Wer drin ist, bleibt drin!“ ruft er jedenfalls, bevor er hinter dem selig heimgegangenen Kasper das Tabernakeltürl zuschmeißt. An den Kammerspielen breiten sich derweil düstere Schatten im Bühnenraum aus, um Flori und seinen letzten, von HIV gezeichneten Lover ins Dunkel zu hüllen. Während das Virus in Großaufnahme wie ein unheilbringender Planet von der Videowand dräut.

Mehr Liebe zum Leben und Sterben der Rebellen aus dem Oberland und der Strizzis aus München hat’s am Theater lang nicht mehr gegeben.