Info
07.05.2025, 10:00 Uhr
Hans Pleschinski
Rezensionen

Horst Bienek, „Die Tagebücher 1951-1990“. Von Hans Pleschinski

Heute jährt sich der 95. Geburtstag des 1990 verstorbenen Schriftstellers Horst Bienek. Als Kritiker, Romancier und Lyriker war Horst Bienek eine bestimmende Figur im Kulturbetrieb der Bundesrepublik. Letztes Jahr erschienen seine erstmals vollständig veröffentlichten Tagebücher, ein „großes Gesellschaftspanorama und seine ganz persönliche Lebensgeschichte“ (Hanser). Der Münchner Schriftsteller Hans Pleschinski hat sie gelesen und stellt sie für das Literaturportal Bayern vor.

*

Er ging viel auf Lesereisen. Eigentlich permanent. Und zwar von Sulzbach-Rosenberg bis Oslo, von Erlangen bis New York oder Mexiko. Bei einer dieser Touren mit seinen Romanen schien ihm die Stadt Siegen an der Sieg wenig zuzusagen: „Universität. Da ist alles Provinz. Bis in die Luft hinein. Das ist alles tot. Tot. Tot. Bis in den Atem. Da erstickt man. Man müßte eine Belohnung zahlen jenem, der hier länger als eine Woche leben kann. Absoluter Tiefpunkt. Die paar Intellektuellen, die hier leben, machen sich was vor. Das ist wie nach Hiroshima. Ja, sie haben’s schon hinter sich. Sie wissen’s nur noch nicht.“ Auch Kiel erwies sich für Horst Bienek als ein Schlag in die Magengrube, wenn nicht tiefer: „Buchhandlung Cordes. Der Mann ist wenigstens originell. Wir sitzen und saufen noch zusammen bis halb zwei Uhr. Draußen Regen. Verlorenheit. Wer fickt hier noch? Wer fickt wen? Wer fickt hier überhaupt?“

Solche desolaten Eindrücke und viele Glanzlichter seines Lebens, alltägliche Fährnisse, beeindruckende Begegnungen und epochale Ereignisse – wie der Supergau von Tschnernobyl – hat Horst Bienek festgehalten, in seinen Tagebüchern. Dieses Diarium ist nun auf gut eintausendfünfhundert Seiten, – keine Seite zuviel –, veröffentlicht worden. Und ein solches Buch hatten wir noch nicht. Sein Inhalt ist drastisch, ehrlich, eine Suite von gesellschaftlichen Höhenflügen und privaten Bruchlandungen, bisweilen auch umgekehrt, so, wie viele es in dieser oder jener Weise erleben. Die Aufzeichnungen Bieneks zeichnen ein überbordendes Leben nach und früher oder später dürften sie als eine Chronik bundesdeutscher Befindlichkeiten und Geschehnisse gelten, mitsamt den scheinbaren Nebensächlichkeiten: „Hohe Nachzahlung an das Finanzamt für Steuer 1979. Ich zahle mich tot. Verstehe gar nicht wie die Leute zu einem Vermögen kommen – wenn man alles weggesteuert kriegt.“

Bienek wurde 1930 in der oberschlesischen Industriestadt Gleiwitz als Sohn eines Lokomotivführers und einer Klavierlehrerin geboren. Er durchlebte seine frühe Jugend im Krieg, in dem zwei seiner Brüder fielen. Nach dem Einmarsch der Roten Armee, dem Untergang des deutschen Schlesien, wurde der Fünfzehnjährige zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Diesem Zugriff entkam er bald als eine Art Aussiedler nach Ostdeutschland, wo er sich als Gelegenheitsarbeiter durchschlug, bis er 1949 Volontär bei einer Potsdamer Zeitung wurde. Bertolt Brecht wurde auf den kunstbegeisterten jungen Mann aufmerksam und nahm ihn in seiner Regieklasse auf. Das Tagebuch kann über die folgende Zeit nur wenig berichten, denn schon 1951 wurde Bienek als vermeintlicher Westspion denunziert und nach einigen Verhören nunmehr in einen sibirischen Gulag, nach Workuta, verschleppt. Brecht intervenierte nicht, und Bienek überlebte vier Jahre im Höllenkreis, was später in seinen Roman Die Zelle einfloss. 1955 wurde der Fünfundzwanzigjährige nach Westdeutschland abgeschoben. Mit seiner Hingabe an Literatur, Musik und Bildende Kunst durchlief Bienek einige Kulturposten in Zeitungen und im Hörfunk, ehe er als freier Autor in München ansässig wurde. Auch in ihrem Nachkriegszustand gefiel ihm die Stadt, die sich zur Heimlichen Hauptstadt mauserte, mit ihren Theatern, Konzerten und der wachsenden Zahl von Künstlern. „Es war herrlich. Ich erlebte diese Stadt wie ein einziges Fest – wie einen Taumel. (Hans-Werner) Henze war umringt von Bewunderern, aber er hatte immer Zeit für mich.“ 

Im Laufe der Jahre wurde Bienek zu einer der zentralen Gestalten im deutschen Kulturleben. Durch Rundfunksendungen, Zeitungsartikel und als Verlagsredakteur machte er sich vor allem mit russischer Literatur bekannt und war selbst befreundet mit Dissidenten wie Alexander Solschenizyn oder Lew Kopelew. Zum renommierten Schriftsteller wurde Bienek durch Gleiwitz. Eine oberschlesische Chronik in vier Romanen. Diese Vergegenwärtigung einer Landschaft und ihrer Menschen gehört weiterhin zu den großen Epen der deutschen Literatur. Dabei stand der Verfasser einfühlsamer Charakterbilder von vornherein in Opposition zum Mainstream des damaligen Geisteslebens. Bienek sympathisierte nicht mit dem linken Spektrum, er war kein Amerika-Verächter. Aus eigener Lebenserfahrung war ihm alle ideologische Rechthaberei zuwider und mit Begeisterung verfolgte er den langsamen Zusammenbruch des Ostblocks seit den Streiks von Werftarbeitern in Danzig im Jahr 1980. In seinen Aufzeichnungen brandmarkte er die Schieflage deutscher Intellektueller, die aus eingefleischter oder modischer Kritik an der westlichen Welt die Diktaturen in nächster Nähe ausblendeten: „Die einzigen Sendungen, die ich noch im TV ansehe, sind das Auslandsjournal und der Weltspiegel – aber seit Wochen nicht ein einziger (!) Beitrag mehr über Polen. Hingegen jedesmal über El Salvador und Guatemala. Wir haben ja schon immer besser über die Verhältnisse in Mittelamerika Bescheid gewußt als die Leute, die dort leben!“ Bieneks Grimm über opportunistisches Verhalten macht auch vor dem Star-Autor der DDR, Stefan Hermlin, nicht Halt: „Er hat ja auf eine polit.-obszöne Weise in der Novelle ‚Die Kommandeure‘ den Berliner Aufstand 1953 als eindeutiges Werk aller K-Z-Faschisten beschrieben. Und für Solidarność wird er ähnliche Motive herbeizerren. Wie eine solche künstlerische Intelligenz pervertiert werden kann. Wenn die Lüge wie Syphilis wäre: wir würden deutlicher sehen!“

Doch Bieneks Bekenntnisse eines liberalen Bürgers mit Abscheu vor Liebedienerei und Geschichtsvergessenheit sind nur Teil seiner temperamentvollen Tageseinträge. Als scharfer Beobachter verlebendigt er viele Protagonisten dieser kaum vergangenen Ära. „4. Juni 1988. Der Berliner Kongreß ‚Ein Traum von Europa‘. Im Grunde erzählt jeder nur von seinen Erfolgen. Helga Nowak primitiv; Barbara Frischmuth langweilig, österreichisch-giftig; Peter Bichsel nur noch lallend. Jürg Laederach sachlich … Kopelew verquatscht. Susan Sontag arrogant, belehrend – wie ein weiblicher Ivan Nagel. Im ganzen: ich habe mich nicht gelangweilt.“

Neben Tagungen, farbig geschilderten Aufenthalten in Israel und New Orleans, rückt immer wieder München, wo er arbeitet, leidet und genießt, ins Zentrum des Erzählstroms. Mit Bienek lernen wir Wolfgang Koeppen privat kennen, der seit Jahren nichts mehr schreibt und sich gern in Edelrestaurants einladen lässt, auch um im Whiskyrausch dem Weinrausch seiner Frau zu entkommen. Wir begegnen Rainer Werner Fassbinder und seiner Crew oder Ingmar Bergman, der als Regisseur am Residenztheater arbeitete. Ein vibrierender Kulturkosmos, der mittlerweile verschwunden ist, tut sich auf. Spaziergänge runden das Bild von der hedonistischen Isar-Metropole ab: „Die Stadt ganz erotisch – die Leute kommen aus den Schneeferien zurück, braungebrannt. Alle sind neugierig, aufgeschlossen, gut gelaunt, auf Abenteuer aus. Ich spüre das in den Gesichtern. Manchmal denke ich, jetzt könnte man beinahe mit jedem gutaussehenden Mann flirten. Und es ist wirklich so: die Männer lächeln zurück. Sie sind sicher nicht ins Bett zu kriegen, aber sind doch ganz stolz darauf, daß man sie begehrlich findet.“

War Bienek völlig nüchtern, als er Passanten kurz aus ihrem Gleichgewicht brachte? Parallel zu seinem Leben als Schriftsteller und Literaturvermittler, dann auch Bildhauer, rang er um seine eigene Ausgeglichenheit: „O Gott, mein altes lasterhaftes Leben. Und ich wollte alles neu machen.“ Dem Eindruck nach schienen damals fast alle und täglich sich mit geistigen Getränken für den Alltag zu stärken. Man liest von Trinkfreuden im Bayerischen Rundfunk und auf opulenten Festen und bedenkt unsere so viel spießiger anmutende Zeit. Bei Bienek waren es vor allem Frankentropfen und Champagner, die ihn beflügelten oder nachdenklich stimmten. „Ich trinke jeden Tag 1 ½ Flaschen Wein und das schon seit Jahren. Wenn ich deprimiert bin, trinke ich, weil ich deprimiert bin. Wenn ich glücklich bin, trinke ich, weil ich glücklich bin. Tröste mich damit, daß Goethe jeden Tag zwei Flaschen Wein getrunken haben soll.“ Und staunend erfährt man: „Ich habe bei Dubois in Mainz für über 2000,- Mark Champagner bestellt. Die verschiedensten Sorten. Gestern kamen nun 19 Kartons an. Ich probiere jetzt die Sorten aus. Was für ein Vergnügen.“

Zeitgleich präsentierte er als Abteilungsleiter in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste dem Publikum bedeutende Philosophen, in- und ausländische Dichter wie Julien Green: „der Saal überfüllt, die beiden kl. Säle davor ebenso voll. Ich musste Leute bitten, sich zu setzen, einfach auf den Boden, weil die Feuerpolizei keine Stehenden duldete.“

Zu seinem gewissen Außerseitertum als liberal-konservativer Geist gesellte sich das Andere, das dieses fulminante Lebensbild grundiert. Ohne Wenn und Aber und offenbar rundum akzeptiert, lebte Horst Bienek seine Homosexualität aus. So wird das Tagebuch zum vermutlich lusterfülltesten Werk der deutschen Literatur, und neben der Jagd nach Liebe nehmen sich die skandalumwitterten Werke Henry Millers eher prüde aus. Sex ist für Bienek – und damit ist er wohl nicht allein – ein Motor des Lebens. Die Eintragungen quellen geradezu über von Ekstasen, bei denen manchmal auch die kulturellen Ingredenzien nicht fehlen: „Und wir fickten die ganze Theresienmesse hindurch, die im Radio gesendet wurde. Übrigens besonders schön in der Erschöpfung nach dem Orgasmus – überhaupt wenn ich Sex mit Liebe mache, dann ist eine Messe wunderbar einstimmend … ich erinnere mich an eine intensive Fick-Meditation mit Jf. beim Mozart-Requiem … eine orgiastische Trauer, die die Seele weit öffnet.“ Einmal allerdings zieht Bienek die persönliche Segnung durch den Papst einem dionysischen Wochenende in Amsterdam vor: „bin eben doch zu katholisch.“ In Summe befindet er: „ach, das Leben ist schön! Das Leben ist verrückt! Hoffentlich bleibt dieses Leben (diese Welt!) uns noch lange erhalten.“

Seine Poetik-Vorlesung an der Münchner Universität beendete er 1987 mit dem Satz: „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Und dazwischen gibt es nichts.“

Drei Jahre später, nach dem Tod vieler Freunde und oft verzweifelt, starb auch Horst Bienek an den Folgen einer HIV-Infektion, „konnte nichts mehr essen. Immer diese Krämpfe.“ Sein Tagebuch hatte er zur Veröffentlichung bestimmt. Das ist ein Glücksfall.  Wer den kulturellen Puls der Bundesrepublik besser erfühlen will, wer offen ist für die Katarakte von Liebe und Tod, die Absonderlichkeit oder Normalität von Menschen, der findet darin einen einmaligen Lesestoff, voller köstlichem Klatsch, pikanter Bosheit, kluger Zeitanalyse und einem untrüglichen Blick in die Seelen.

Horst Bienek, Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts. Die Tagebücher 1951-1990. Herausgegeben von Daniel Pietrek, Gisela vom Bruch und Michael Krüger. Mit einem Nachwort von Michael Krüger, Carl Hanser Verlag 2024.

Externe Links:

Verlagswebsite