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21.01.2014, 12:16 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [326]: Weitere Worte über die Tugend

Wenn alle Raffaele verwittert, alle jetzigen Sprachen gestorben, neue Laster und alle mögliche Physiognomien und Charaktere dagewesen, die Zartheit und Besonnenheit und Kränklichkeit größer, die Hohlwege zehnmal tiefer und die tiefsten Wahrheiten platte geworden...

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht

Ach, die Tugend … Es ist des Erzählers Vorwurf, dass die Tugendschwätzer sich nur in Bezug auf den Körper äußern, ergo: dass in ihrem Diskutieren der pure Materialismus herrscht. Wo „Schönheit und Tugend sich zanken“, denkt der Leser tatsächlich an zwei körperhafte Allegorien, deren Interessen – eben nicht tugendhaft, idealistisch, seelisch, sondern teleologisch motiviert sind.

Allein: Ist es möglich, eine Tugend auszubilden, die gänzlich vom Körper abstrahiert? Eignet nicht noch der größten „Tugend“ ein Interesse an, das, seiner unbewusst, nicht weniger zielgerichtet ist als der Körper, der sich im Zank um die Dominanz im Reich der Sinne um sein Recht schlägt? Ist das Wort vom „Tugendapostel“ nicht auf die gemünzt, die als extreme Idealisten auftreten? Und ist der „wahre Idealismus“ nichts anderes als der Versuch, von den Defiziten der eigenen Sehnsüchte, der gescheiterten Projekte, der Arroganz gegenüber den vitalen Prozessen des Körpers abzulenken?[1] Kurz: Ist „Tugend“ nicht etwas, worüber im Ernst nichts gesagt werden kann? Was vorhanden sein mag, aber nicht definiert werden sollte? Was zwar – etwa von Raffael und Correggio – genau gemalt, aber nicht genau begründet werden kann? Und ist der jüdische Begriff des „Gerechten“ nicht viel lebensnäher und realistischer, weil hier die wahre „Tugend“ nicht an die moralische Vollkommenheit, wie sie den Tugendaposteln vorschweben mag, geknüpft wird?

Freilich ist es witzig, wie „Jean Paul“ die Tugendansichten der Diskutanten glossiert: in ihrem Sinne sei Tugend nichts anderes als der Ökonomus des Magens, die Konviktoristin der Sinne, die Offiziantin und Tochter des Körpers.

… so müsste auch jene Vervielfältigung nur ein Recht des ersten Schöpfers bleiben, weil sonst Correggio bloß so bezahlt würde als sein Bilderhändler.

Sieben letzte oder Nachworte gegen den Nachdruck

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[1] Womit freilich nicht dem lupenreinen Vitalismus das Wort geredet werden soll.

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