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16.12.2013, 12:39 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [304]: Herkulisches Welterbe

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Es hilft nichts – wir müssen endlich nach Kassel.

Es war Caroline, die frisch Verheiratete, die ihn hierhin zog, aber schon 1796 hatte er vielleicht geahnt, dass er wenigstens einmal die Stadt besuchen würde.

Mein Großvater, regierender Fürst von Flachsenfingen, der ein bekannter lebenslanger Rival von Hessenkassel – nämlich vom dasigen Landgrafen Friedrich – war, konnte sich über nichts so sehr entrüsten als über dessen „Winterkasten“ und am meisten über den kupfernen Herkules darauf, – und das darum, weil er einen solchen Kasten und metallnen Goliath nirgends in seinem Territorium vorzuweisen hatte.

So liest man's in der Ersten biographischen Belustigung von Jean Pauls Biographischen Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin. Eine Geistergeschichte. Das Kapitel trägt die Unterschrift: Die bleierne Jungfer Europa – das Schlachtfeld – die Melancholie – der Frühling. Der Herkules ist nun in der Tat ein bedeutendes Denkmal: mit 8 Meter und 25 Zentimetern ist er, ein Kerl des frühen 18. Jahrhunderts, groß genug, um einen Flachsenfinger Fürst zu beeindrucken – doch noch nicht so groß, dass man sich in seinem Kopf eine Stube einrichten könnte. Jean Paul hat eben diese US-amerikanische Monumentalität für den fürstlich-flachsenfingrischen Nachbau (gegen den vergleichsweise mickrigen Herkules) so reizend wie prophetisch dahinfantasiert. Scheint es nicht, als habe der Dichter die Freiheitsstatue erfunden? Oder konnte man schon im Kopf des Koloss von Rhodos spazieren gehen?

Die Freiheitsstatue ist so gut Welterbe wie das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth und der Kasseler Bergpark Wilhelmshöhe, was sie so verbindet wie die Besuche des Bloggers, der sich im Kopf der Miss Liberty so wohl fühlte wie vor dem Kopf des Herkules.[1]

 

WELTERBE!

Wenn zuweilen ein hoher Reisender oder gar ein vornehmer Hesse, der nichts von der Nebenbuhlerei gehört hatte, über der Tafel den hochstämmigen Enaks-Sohn oder Christofel – so nennt ihn der kasselsche Pöbel –, so gut er konnte, nach dem Leben schilderte

wenn er deswegen anführte, dass der Titan 31 Fuß messe (ohne das Stativ), dass folglich sein Ellenbogen unter kein preußisches Rekrutenmaß gehe

und wenn endlich der hohe Reisende mit dem letzten aufgesparten Zuge zu überraschen gedachte, dass der Orlogskopf zehn Mann, die noch dazu die herrlichsten Aussichten aus dem Schädel haben, recht bequem logiere und sein Keulen-Bloch nur die Hälfte:

so wurde meinem Großvater vor Ärger nicht nur grün und gelb vor den Augen, sondern sein Gesicht nahm selber diese Farben an.

Über den durchaus reinen und großen Sonnenglanz der Wilhelmshöhe spreche der Teufel, der mehr Zeit hat zu malen als Leute, die er holt.

Als Jean Paul 1801 nach Kassel reiste und in einem Brief an Freund Otto seine Meinung über die Anlage äußerte, sah die Wilhelmshöhe ungefähr so aus, wie Johann Erdmann Hummel sie gemalt hatte – denn Hummel malte eine Idealansicht des Bergparks samt Landgräflichem Schloss und Herkules. Jean Paul meinte gewiss nicht die äußere Sonne, die auch heute noch gelegentlich über Wilhelmshöhe scheint – er bezog sich auf Hochadel von Hessen-Kassel. Der Logen-Leser mag sich an die Ausfälle erinnern, die er zehn Jahre zuvor dem verdorbenen Scheerauer Kleinadel gewidmet hatte. Noch immer rumorte es im Dichter, der sich zwar gern in der Nähe von Königinnen, Fürsten und Königen aufhielt, gar einem Zaren einen Brief schrieb – aber bei näherer Bekanntschaft erkannte, dass das, was er in der Loge geschrieben hatte, immer noch zutraf: im Landgrafentum wie anderswo.

Fotos: Frank Piontek, 5.11. 2013 / Dezember 1997 (New York)

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[1] Als der einmal zur Restaurierung der decapitatio anheim fiel und zeitweilig in die Museen der Wilhelmshöhe einrückte, wo ihm der Blogger direkt ins Auge schauen durfte.

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