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26.09.2013, 09:09 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [237]: Das Drama nimmt seinen Lauf

Der Vorhang hebt sich wieder, der zweite Teil beginnt.

Die Theatermetapher passt tatsächlich, denn zu Beginn des zweiten Teils des Romans, zu dem der Kupferstecher leider keine zweite Illustration geliefert hat, ist vom Theater die Rede. Nämlich so: Gustav befindet sich nun im alten Schloss, das, wie das neue, sich im Besitz der Residentin[1] Frau von Bouse befindet, die es von ihrem verstorbenen Bruder geerbt hat. Interessant ist nun die nähere Charakterisierung dieser Frau:

Die Natur hatte ihr alles gegeben, was das eigne Herz erhebt und das fremde gewinnt; aber die Kunst hatte ihr zu viel gegeben, ihr Stand ihr zu viel genommen – sie hatte zu viele Talente, um an einem Hofe andre Tugenden zu behalten als männliche; sie vereinigte Freundschaft und Koketterie – Empfindung und Spott – Achtung der Tugend und Philosophie der Welt – sich und unsern Fürsten. Denn dieser war ihr erklärter Liebhaber, welchem sie ihr Herz mehr aus Ehre als aus Neigung ließ. Sie war zu etwas Besserem gemacht als zu schimmern; allein da sie zu nichts Gelegenheit hatte als zum Schimmer: so vergaß sie, dass es jenes Bessere gebe.

Mit anderen Worten: die Frau hat gute Anlagen, aber ihre Natur wurde von dem überwältigt, was höfische Zivilisation zu verderben vermag. Kein Mensch aber ist zu schlecht, als dass nicht noch ein Gran – in diesem Fall: ein gewaltiges Gran – von „Besserem“ in ihm schlummere. Für „Jean Paul“ ist dieses Bessere moralisch aufgeladen, das sich in stetem Kampf mit jener Welt befindet, in der Leute wie Oefel und der Fürst sich sehr bequem eingerichtet haben: eine Welt des Scheins, der habituellen Verkleidung, der Maskierung, mit einem Wort: eine Welt des Theaters. Eben deshalb verwundert es nicht, dass Oefel ein Theaterstück schreibt, in dem der Fürst und die begehrte Frau (und Oefel) ihre Rollen spielen sollen: ein Manipulationsdrama (oder -dramolett), das im Liebhabertheater zu Oberscheerau aufgeführt werden soll. „Das Drama sollte Beziehungen haben“, teilt der Erzähler mit. Ob Beata und Gustav mitspielen werden, wird man sehen. Verführung durch und im Spiel – die Sache hat etwas zweideutig Eindeutiges. In der Künstlichkeit dieses Theaters aber liegt zugleich etwas Natürliches: die Natur der höfischen Beziehungen eines Ancien régime, in dem das Spiel absolut notwendig ist, um im Schauspiel des Lebens überleben zu können. Wer spielt, lügt – aber wer lügt, kann wenigstens, wenn er Glück hat, gut spielen.

Auch er war ein Held des Liebhabertheaters: Goethe. Das berühmte Bild Georg Melchior Kraus' zeigt ihn als Orest im Schauspiel der Iphigenie – anlässlich der festlichen Premiere des herzoglichen Liebhabertheaters im Hauptmannischen Haus am 6. April 1779 in Weimar. Auch heute gibt es noch ein Goethesches Liebhabertheater, das auch so heißt und ein dementsprechendes Repertoire spielt: das entzückende Liebhabertheater Schloss Kochberg.

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[1] Was ist überhaupt eine Residentin? Seltsamerweise wurde diese Frage hier noch nicht erörtert; jedenfalls kann sich der Blogger nicht erinnern. Ist eine Residentin im Jahre 1790 so etwas wie eine Professorin – also eine Frau, die mit einem Residenten verheiratet ist? Nein – denn ihr französischer Name sagt, dass sie aus Frankreich kommt, infolgedessen als Ausländerin in Scheerau residiert. Wir müssen uns die Frau also mit einem französischen Akzent vorstellen – einem Akzent, der vermutlich erotisch wirkt, zumindest auf Männer, die für französische Akzente empfänglich sind.

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