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03.08.2013, 12:40 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [217]: Die Melancholie des Archäologen

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1787 malte Albert Christoph Dies das Gelände des Forum Romanum – bevor es ausgegraben wurde. Die Kirche S. Adriano, die in der alten Curia Iulia eingerichtet wurde, müssen wir uns links vorstellen. (Quelle: Sächsisches Landesmuseum)

Ottomar ist tatsächlich depressiv, damit ein Verwandter des Giannozzo, damit auch ein überscharf sehender Kritiker der Gesellschaft. Es kommt mir so vor, als hätte ich diese bitterschwarzen Sätze schon einmal bei Jean Paul gelesen:

Der Himmel schneiet ein paar Flocken zu unserem innern Schneemann zusammen, den wir unsre Bildung nennen, die Erde schmerzt oder besudelt ein Viertel davon, der laue Wind löset dem Schneemann den Kopf ab – das ist unser gebildeter innerer Mensch, so ein abscheuliches Flickwerk in allem unseren Wissen und Wollen!

Wie ein echter Depressiver behauptet er, dass das ganze Menschenwerk, selbst das Bücherschreiben kein Ziel habe, dass Wissen nichts nütze und „ein Jahrhundert untergeegget und untergeackert wird zur Düngung des nächsten“. Wie ist das aufzufassen? Jean Paul, der bekanntlich ein exzessiver Schreiber und Büchermacher[1] war, kritisiert eben das Bücherschreiben, das fast wahllos angehäufte Scibile? Ist dies eine Camouflage, braucht er Ottomar, um den Irrweg dessen anzuzeigen, der sich in der Welt verrannt und sein Ziel verloren hat? Oder hat er hier nicht, in einer schwachen Minute, seinem innersten, unbewussten Ekel gegenüber seinem Dämon, seinem Getriebensein, seiner Flucht aufs Papier und in die Tinte, einmal Ausdruck gegeben – bevor er sein am Leben und am Lebensekel leidendes alter ego Giannozzo in den Selbstmord führte? Wie viel Jean Paul steckt in Ottomar? Steckt ein Dichter nicht in jeder seiner Figuren? Oder hat Jean Paul wirklich „objektiv“ über so interessante Gestalten wie Ottomar schreiben können? Zeigt er mit Ottomar das Wirrsal einer enthemmten Zeit an, die existenzielle und geistige Heimatlosigkeit inmitten der Revolutionsstürme, die alles tradierte Wissen vernichten wollten – oder identifiziert er sich auch mit dem Mann und seiner Lebensmüdigkeit, während er in seiner einsamen Stube sitzt und genug Zeit hat, um Nachtgedanken zu entwickeln, die ihn weit von den Ländern entfernen, die Sicherheit, Heimat, Liebe verheißen?

„In Rom wohnte ein Maler, der Kirche von S. Adriano gegenüber, der unter dem Regen sich allemal unter die Dachrinnen stellte und sich toll lachte; der sagte oft zu mir: ‚Einen Hundetod gibts nicht, aber ein Hundeleben‘“ – so beginnt dieser Passus, der uns nicht zufällig an ein Ruinengelände führt, das unter dem Staub der Jahrtausende begraben war, bevor man es, in Jean Pauls Schwarzenbacher Jahren, freizulegen begann. Die Kirche S. Adriano befand sich in jenem Gebäude, das vormals die Curia Iulia gewesen war – ein christlicher Bau in einer „heidnischen“ Ummauerung. „Ein Jahrhundert wird untergeegget und untergeackert zur Düngung des nächsten“ – dieses Wissen schafft Unruhe, diese Einsicht schafft Trotz gegenüber den „Sicherheiten“, die das Individuum noch pflegen kann. Der Kapitän repräsentiert dieses Ruinenbewusstsein; er tut es vielleicht ohne Not, aber er hat doch Teil an der großen Skepsis, die sensiblere, weniger auf Utopien als auf Kritik bedachte Gemüter gelegentlich überfällt.

Dass Jean Paul, der Meister der Utopien und der Wunschlandschaften, neben Gustav und Beata, neben die satirischen Gestalten und die Humoristen eine geistesfinstere Gestalt dieses Ranges stellt, ist bemerkenswert.

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[1] Dies hat er in seinen Bayreuther Jahren als seinen Beruf angegeben. Er war stolz darauf, rund 60 Bücher (die Zweitauflagen mitgezählt) zum Druck befördert zu haben.

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