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25.07.2013, 12:29 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [210]: Entehrung und Ohnmacht

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Eine berühmt-berüchtige Infamie: die Degradierung des Alfred Dreyfus.

Gustav nimmt Anteil an fremdem Leid, er zieht es sich an wie einen Schuh. Dies würde ihn „retten aus allen diesen Dornen und aus der blessierenden Heerschau“: eine „fremde Infamie“. Nämlich so:

Ein Offizier wird für ehrlos erklärt, er verkehrte mit „Spitzbuben“ (ich muss mir darunter Trinker, Kleinkriminelle, Beutelschneider aller Art vorstellen). Die Infamierung geht öffentlich vor sich, direkt beim Regiment, das dieser Mann entehrt hat. Es wird ihm der Degen und das Wappen „geknickt“, die Uniform vom Leib gezogen. Gustav sieht das – und fällt in Ohnmacht, worüber sich der Leser nicht wundern muss. Es passt zum Charakterbild des jungen Mannes, der empathisch bis zum Anschlag ist. Sein Ehrgefühl, sagt der Erzähler, „blutete sogar aus den Wunden eines fremden“ Ehrgefühls. Erwacht, sagt er sogleich: „Soldat gewesen auf ewig! – Wenn der arme Offizier unschuldig war oder wenn er besser wird: wer gibt ihm die ermordete Ehre wieder? – Nur der untrügliche Gott kann sie nehmen; aber der Kriegsrat sollte nichts nehmen als das Leben! – Die Bleikugel, aber nicht die Infamie!“

Halten zu Gnaden, aber das ist naiv. Wir müssen annehmen, dass der Infamierte tatsächlich schuldig war im Sinne des Militärrechts, was die Sache nicht schöner, aber verständlich macht. Wenn Gustav nun ein gutes Herz beweist, indem er Partei ergreift und in dubio pro reo argumentiert, wo nichts mehr zu verteidigen ist – dann offenbart er eine Naivität, die zugleich weltfremd und humanistisch anmutet. Denn in Einem hat er Recht: „Wenn der arme Offizier besser wird: wer gibt ihm die ermordete Ehre wieder?“ Im Rechtssystem von 1791 ist Resozialisierung nicht vorgesehen. Eben deshalb kann Jean Paul wieder in jenen O-Mensch-Ton hineinfallen, der so typisch ist für ihn, und der über den Fall Gustav hinausweist:

Gemarterte Brüder! wie lieb' ich euch jetzt und den sanften Gustav in dieser Minute, wo meine Phantasie unter euch alle hineinblickt, wie ihr, vom Zickzack des Schicksals herumgetrieben, mit eueren Wunden und Tränen müde nebeneinander stehet, einander umfasset, einander beklagt und einander – begrabet!

Darüber kann man immer noch nachdenken, weil Gustav als Protagonist eines Empfindens auftritt, in dem sich jene Allliebe spiegelt, die zu allen Zeiten nötig – und doch alltäglich so schwer zu machen ist.

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