Info
20.06.2013, 13:53 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
images/lpbblogs/logenlogo_164.jpg
Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [178]: Wenn auch Männer den Bogen schlagen

André Brouillet malte 1887 das bekannte Bild, das den Doktor Jean-Martin Charcot – der nur wenige Tage nach Jean Pauls Tod, noch im November 1825, geboren wurde – bei der Vorführung seiner hysterischen „Parade-Patientin“ Blanche Wittman in der Salpêtrière zeigt.

Hysterie – ich habe den Begriff in Zusammenhang mit Gustav verwendet. Habe ich da unbewusst daran gedacht, dass „Jean Paul“ dem Amandus eben dieses Gefühl zuweist? „Amandus, dessen hysterisches Gefühl nicht so fein als konvulsivisch war“? Interessant ist, dass die Hysterie erst im späten 19. Jahrhundert Karriere machte, im frühen 20. zu einem absoluten Höhepunkt kam (ein Begriff, der trefflich zum sexualisierten Krankheitsbild passt) und heute verschwunden ist. Jean Paul benutzt also einen Begriff, der zunächst dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurde (daher der Bezug auf die hysterá, die Gebärmutter), und dies knapp 100 Jahre, bevor die Hysterie zur Modekrankheit wurde: mit all ihren bizarren Erscheinungen, die man um 1900 in vielen Bildern und Fotos verewigte. Dass Jean-Martin Charcot, der berühmte Meister der Hysterie, die Krankheit auch den Männern zuschrieb, ist in Hinblick auf Jean Paul interessant, der sich hier wieder einmal als Moderner avant la lettre erweist. Nicht, dass wir in Zusammenhang mit Amandus an den gewaltigen Hysteriediskurs denken müssen, diesem kulturgeschichtlich prägnanten Gespräch über die Eigenheiten der hysterischen Frau. Es ist nur seltsam, Wagners Extremfall Kundry und all die Frauen, die den berühmten arc machen, mit Amandus zusammenzudenken, denn Amandus besitzt weibliche Gefühle, die von einem Organ herrühren, das er nicht besitzt.

Amandus' „Hysterie“ sorgt nun kurzfristig für eine Verstimmung zwischen den Freunden, denn Gustav hat – wem auch immer – versprochen, „nichts zu sagen“. Die Spannung löst sich, als Gustav das Porträt Guidos hervor zieht und der traurige Gustav sich mit dem permanent lächelnden Konterfei vergleicht, das ihm so ähnelt, worauf sich beide mit einer pathetischen Geste versöhnen: „Die Flut der Liebe nahm beide in fester Umarmung hinweg und hob sie.“ Gustav weint, die Augen schwimmen in Tränen, die Lippen zucken.

Ist das nicht auch hysterisch??

Wie aber soll jemand „normal“ sein, der in einer Höhle aufwächst? Wie soll jemand nicht gestört sein, der jahrelang kein Sonnenlicht erhält? Wie soll jemand „vernünftig“ sich verhalten, der in jener Phase, in der die Einübung von sozialen Kontakten trainiert wird, eben diese nur in Gestalt eines „Genius“ und eines Hundes hat? Wie soll jemand nicht zur Hysterie neigen, der unter Umständen aufwächst, für die die Eltern heute ins Gefängnis wandern würden? Dass Jean Paul die tiefen Empfindungen seiner Helden als Beweise einer höheren Menschlichkeit adelt, diese Empfindungen aber nicht frei sind von Anwandlungen, die wir heute noch als „hysterisch“ bezeichnen würden (wobei wir gleichzeitig „die Frauen“ an sich beleidigen?) – ist dies nicht ein Problem? Kann das 220 Jahre alte Kunstwerk hier wirklich frei gemacht werden von gegenwärtigen Einsprüchen?

1991 erschien ein Buch im Verlag Matthes & Seitz, das einen hübschen Titel trägt: „Mann, sei nicht so hysterisch!“ Auf der Rückseite des Umschlags lese ich den Satz: Die Hysterie ist kein Vorrecht der Frauen. Gleich zwei „Bayreuther“ sind in diesem Band vertreten: Oskar Panizza und Nike Wagner; letztere, die sich exzellent auskennt in der Geschichte der (Wiener) Moderne und bei den Herren Weininger & Co., schrieb einen Aufsatz über die Typologie des „neurasthenischen“ Mannes, der bereits 1978 in Über den physiologischen Stumpfsinn des Mannes veröffentlicht wurde – einer Variante der berüchtigten, auf das „Weib“ bezogenen Schmähschrift.