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06.12.2012, 12:02 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [46]: Jean Paul und Johann Sebastian Bach

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Auch er war, wie der Dichter, ein Kind des Frühlingsanfangs: Johann Sebastian der Einzige, gemalt von Elias Gottlob Haußmann (nebenbei: das einzige authentische Bach-Porträt).

Ich weiß, man sollte das nicht tun, aber ich tue es trotzdem: ich lese Jean Paul und höre gleichzeitig, weil's so schön ist, noch ein bisschen Musik im Morgenradio: Bachs A-Dur-Klavierkonzert BWV 1055. Den letzten Satz anhörend, passiert wieder etwas Seltsames. Die akustische harmoniert sich derart mit der optischen Lektüre, dass sie gleichsam als Filmmusik abläuft. Ich höre ein Allegro ma non tanto, dessen Duktus an den eines Menuetts erinnert (ich weiß: es ist kein Menuett). Jean Paul beschreibt gleichzeitig die Neu- und Altscheerauer, also die Fürstenresidenz und das ältere Städtchen. Was er beschreibt, ist ganz und gar nicht nett. Die milde Gravität des (herrlichen) Bachkonzerts hat plötzlich eine Entsprechung in der schlechten Gravität der Scheerauer. Der Satiriker hält sich da nicht zurück – und am Ende ist er nicht mehr Satiriker, sondern ein kompromissloser Kritiker. Hier, bei den Neuscheerauern, die „steife Subordination“, dort, bei den Altscheerauern, die devote Imitation: wenn der Fürst niest, niesen alle mit (und sie „weinen, husten, beten, laxieren, hassen und pissen“; der Dichter liebt zumal dieses letzte, deutliche Wort). Der Mensch wird zur Staatsmaschine, die Individuen lösen sich in Subjekten auf – nur für die Musik gilt es nicht: bloß hier „regiert sie einiger wahre Freiheitsgeist“. Es tröstet nicht, da der Autor des Pasquills feststellen muss:

Sie hassen schöne Wissenschaften so sehr wie sich untereinander – unfähig, gesellschaftliches Vergnügen zu entbehren, zu veranstalten, zu genießen, unfähig zu wagen, einander offen zu hassen und zu lieben und zu ertragen, bohren sie sich in ihre Geldhügel und achten öffentlich den Reichsten und geheim den Verwandten oder gar niemand – ohne Geschmack und ohne Patriotismus und ohne Lektüre. Ihr größter Fehler ist, dass sie nichts taugen; aber sonst sind sie fleißig, voll lauter Kaufleute, enthaltsam und fegen die Gassen und Gesichter hübsch.

Der Verfasser des Giannozzo wird später ähnlich schreiben. Man sieht: Jean Paul ist weder auf den Humor noch auf das Pathos reduzierbar. Er ist gallig und schroff, ein psychologischer Kritiker degenerierter gesellschaftlicher Zustände. Der Rittmeister und die Rittmeisterin, die dieser Gesellschaft angehören, passen haargenau in sie hinein – es wird interessant sein, vor dieser Folie Gustavs Entwicklung zu verfolgen; offensichtlich war hier Kontrastives geplant worden: der Held als Licht innerhalb des Nachtdunkels einer versäumten Aufklärung. Schon Bach hat ja, ein halbes Jahrhundert zuvor, unter den trüben Leipziger Zuständen gelitten.