Kannibalismus im Wirtschaftswunderland

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Francisco Goya (1746-1828): Saturn frisst seine Kinder

Elsner dekonstruiert in ihren Riesenzwergen allem voran die Wirtschaftswundergesellschaft der 1950er- und 1960er-Jahre, indem sie die um sich greifende „Fresswelle“ persifliert. Die Geschichte des Romans säumt eine Tirade von Fressorgien in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten, in denen das Mahl eine wesentliche Rolle spielt. So beginnt der Roman auch mit einer (Fr-)Essszene bei Tisch des Ich-Erzählers:

Mein Vater ist ein guter Esser. Er läßt sich nicht nötigen. Er setzt sich an den Tisch. Er zwängt sich den Serviettenzipfel hinter den Kragen. Er stützt die Handflächen auf den Tisch, rechts und links neben den Teller, rechts und links neben Messer und Gabel. Er hebt das Gesäß ein wenig vom Sitz. Er beugt sich über den Tisch, daß seine Serviette herabhängt auf den leeren Teller [...]. Dann senkt er das Gesäß auf den Tisch. Dann greift er zu. Er lädt sich auf mit der Vorlegegabel, mit dem Vorlegelöffel [...], bis er einen großen Haufen auf dem Teller hat. Und während mir meine Mutter auftut, einen Haufen, der im Haufen meines Vaters mehrmals Platz hätte, drückt mein Vater mit der Gabel das Gemüse, die Kartoffeln breit, schneidet mein Vater mit dem Messer das Fleisch zu großen Happen klein und gießt mit dem Soßenlöffel Soße über das Ganze. [...] Er führt vollbeladene Gabeln zum Munde und kaut mit großer Sorgfalt klein, den Blick auf den Mittelscheitel meiner Mutter gerichtet, die sich nun selber auftut, einen Haufen, der in meinem Haufen mehrmals Platz hätte.

(Gisela Elsner: Die Riesenzwerge. Reinbek bei Hamburg 1964, S. 7.)

Dabei wird Essen nicht nur in Bezug auf die Fresswelle und den damit verbundenen Wohlstand thematisiert: Der Verzehrvorgang ist gleichsam ein gewaltsamer Akt des Einverleibens. So wird insbesondere der Fleischkonsum als kannibalischer Akt beleuchtet. Und genau diesen Kannibalismus identifiziert Elsner im Nachkriegskapitalismus gleichermaßen wie, bezogen auf die Vergangenheit, im Holocaust. Das Speisen wird aggressiv beschrieben, gar barbarisch verzerrt – sogar ein Mensch wird aufgegessen, nachdem er einen Normenverstoß begangen hat: Der Lehrer, Vater des Ich-Erzählers, hat vergessen seinen Vorgesetzten, den Oberlehrer, zu grüßen.

Dann fielen sie über meinen Vater her. Es war ein großes knurrendes Knäuel aus Armen, Beinen, Rümpfen, das sich hin und her wälzte auf dem Fußboden [...]. Hin und wieder sah ich einen Arm hoch darüber sich erheben mit einem Besteck in der Hand und mit Wucht hinabsausen. [...] Durch das Knurren hörte ich es knacken, brechen. Dann fiel das Knäuel auseinander.

(Ebda., S. 29f.)

Dieser Verstoß wirkt so lächerlich wie die Fressorgien absurd erscheinen. Eine Parallele zur NS-Zeit zieht die Autorin darin, dass der Oberlehrer die Witwe des Toten heiratet und dadurch glaubt, den kannibalistischen Akt wiedergutmachen zu können – so wie der Mord an den Juden gegenüber den Überlebenden mit Entschädigungszahlung abgegolten wird und die Mörder ungeschoren davonzukommen scheinen: Die ehemalige „SS-Elite“ besetzt im Wirtschaftswunderland die Spitzenpositionen. Der Umgang mit der deutschen Vergangenheit ist ein wesentliches Thema im Werk Elsners. Die Figur des unschuldigen Soldaten, der argumentiert, er habe lediglich Befehle ausgeführt, ist ein weiteres Beispiel für die gescheiterte Entnazifizierung. Diese Gewissenslosigkeit ist eine Voraussetzung für den Adenauerschen Zukunftsoptimismus, den Willen zuzupacken, die Vergangenheit abzuhaken. Darüber hinaus legt das Familienmahl gesellschaftliche Strukturen frei. Der Vater demonstriert in diesem Zusammenhang seine Macht: Der „Ernährer der Familie“ hat auch am meisten Anspruch auf das Essen – ist auch in seiner Vormachtstellung ein Kannibale, der das Recht der anderen Familienmitglieder vertilgt. Der Akt des Essens, der in Tischmanieren äußerlich kultiviert wird, wirkt zugleich roh und archaisch. Die Mutter ist demgegenüber eine schlechte Esserin und hat Angst vor dem Urteil ihres Mannes, dass das Mahl recht war. Elsner zeichnet hier ein bitterböses Bild der heilen, patriarchischen Familie, der fürsorglichen Mutter und verantwortungsvollen Hausfrau und des zuverlässigen Ernährers und ordnungswahrenden Familienoberhauptes. Ein Ausweg aus dieser Konstellation erscheint unmöglich: Eine alleinstehende Frau hat einen schlechten Stand in der Gesellschaft. Nur darum heiratet Frau Leinlein auch den Mörder ihres Mannes.

Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Cremer, Dorothe (2003): „Ihre Gebärden sind riesig, ihre Äußerungen winzig“. Zu Gisela Elsners Die Riesenzwerge. Schreibweise und soziale Realität de Adenauerzeit (Frauen in der Literaturgeschichte, 13). Herbolzheim.

Hehl, Michael Peter (2014): Ikonisierung, Kritik, Wiederentdeckung: Gisela Elsner und die Literatur der Bundesrepublik. München.