Rotula

Als an der Wende zum 22. Jahrhundert in unserer Behörde erstmals von einer Erschließungskommission die Rede war, die ein lange abgeschlossenes, aus mehreren zerfallenen Weilern bestehendes Gebiet – noch vor hundert Jahren Siedlungsraum einer Stadt – vorstoßen sollte, um Möglichkeiten der Neubelebung zu erkunden und mit den verbliebenen Bewohnern Kontakt aufzunehmen, ahnte ich nicht, dass ich selbst, Lanzelot Squindo, einmal zum Leiter dieser Kommission bestellt werden sollte.

Mit diesen Sätzen beginnt der dritte Roman der in München lebenden Autorin Susanne Röckel, Rotula, der 2011 erschienen ist. Erzählt wird die Geschichte einer traumatisierten Stadt, die ihre Seele verloren hat. Grund dafür ist eine Katastrophe im Jahr 2014. Der Ich-Erzähler Lanzelot Squindo unternimmt eine Forschungsreise in das geheimnisumwobene Gebiet und findet in einem verborgenen städtischen Archiv Tagebuchnotizen einer Prinzessin Luise aus den Jahren 1813 und 1814, Zeitungsauschnitte von 1914 und Protokolle einer Rede sowie Briefe von 2014. Die Dokumente weisen darauf hin, dass der nahe gelegene Fluss außergewöhnliche Lebewesen beherbergt hat: Jahrmillionen alte Fossilien.

Am 9. Juli 1813 heißt es im Tagebuch der 21-jährigen Prinzessin Luise, einer „dilettierenden Forscherin auf dem Gebiet der Fossilienkunde“:

Was wir von der Fauna der Vergangenheit empfangen, sind die versteinerten Überreste ihrer harten Teile, Knochen, Schalen, Stacheln, Klauen, Zähne, also die Werkzeuge des Kämpfens und Tötens, alles Unverwehrte, Weiche ist vernichtet. Die zahllosen Wesen, die einst unter unserem Himmel lebten, haben gegeneinander Krieg geführt, was wir betrachten, sind die Zeugnisse eines über Jahrtausenden und Jahrmillionen fortdauernden Massakers.

Prinzessin Luise untersucht die kreisförmigen Versteinerungen, die Rotula, die sie gefunden hat und stellt sich am 8. August 1914 die Frage: „Ist es denkbar, dass die Rädchen mit ihren Speichen oder Strahlen in Wahrheit wirbelnde, alles vernichtende Mahlwerke waren, die vor nichts haltmachten?“

Es muss einen Moment gegeben haben, in denen ein Umschwung erfolgte, der sie ihre Artgenossen, „mit denen sie Millionen Jahre lang friedlich auskamen“, plötzlich als Konkurrenten und Feinde betrachten ließ. Wo vorher alle zusammenlebten, „war nun das Nichtleben der einen die Bedingung des Überlebens der anderen“ geworden.

Von da an gab es nur noch Starke und Schwache, Sieger und Verlierer. Die Rotula wuchsen sich zu Ungeheuern aus, die keine anderen Organismen mehr aufkommen ließen. Wo sie waren, verödete die Welt. [...] Die Rotula glänzen und glitzern vor mir auf dem Tisch, fast will es schienen, als wären sie größer als noch vor einigen Stunden. An diesem Eindruck ist die unruhige Kerzenflamme schuld – oder die schrecklich Unruhe in mir.

Lanzelot Squindo wird von der Gattin des Bürgermeisters, Conny Laval, auf deren Visitenkarte „Laval KG. Geoconsulting“ steht, zum Abendessen eingeladen, erhofft sich weitere Informationen und ist erstaunt, dass vor dem Haus zwei Bewaffnetet patroulieren. Auf seine Frage antwortet die Gastgeberin mit einer Gegenfrage: Ob er nicht bemerkt habe, dass das Volk unruhig ist. Auf seine Fragen nach der Fundstelle der Rotula reagiert sie nicht nur abweisend, sondern mit unangemessener Heftigkeit. Sie beschäftige sich nicht mit alten Steinen, Dingen, die ihr nichts nützen.

Es ist mir gleichgültig. Die moderne Wissenschaft hat andere Aufgaben. [...] Wir sind nicht mehr abhängig von dem Boden, aus dem das Wasser kommt. Wir haben es nicht mehr nötig, alles Mögliche in das Erdreich – oder das Wasser – hineinzugeheimnissen, wie unsere armen Vorfahren.

Doch damit gibt sich Lanzelot Squindo nicht zufrieden, sondern forscht weiter.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt