Traumatisierte Welten

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Eugen Bracht: Detail des Gemäldes "Das Gestade der Vergessenheit", 1889.

Ein namenloser Mann und sein namenloser zehnjähriger Sohn wandern durch ein verwüstetes Amerika Richtung Südküste. Ihre einzige Habe führen sie in einem Einkaufswagen mit sich, darunter ein Revolver mit zwei Schuss Munition. Obwohl man nicht erfährt, woher sie kommen, wie lange sie unterwegs sind und was geschehen ist, spürt man sofort, dass es ums nackte Überleben in einer postakopalytischen Welt geht. Fast alle Tiere und Pflanzen sind vernichtet. Die wenigen Menschen, die überlebt haben, marodieren in Gruppen durch das Land und schrecken weder vor Mord noch vor Kannibalismus zurück. The Road/Die Straße, der Roman des amerikanischen Autors Cormac McCarthys über die Welt nach dem Weltuntergang, war 2006 (2007 deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl) DIE literarische Sensation. McCarthy wurde 2007 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Das TIME Magazine kürte Die Straße zum besten Roman seines Jahrzehnts.

Die Straße ist ein Paradebeispiel für dystopische Literatur, ein Genre, das sich im 19. Jahrhundert entwickelte und eine Sonderform der utopischen Literatur bildet. Das Zeitalter der industriellen Revolution erzeugte nicht nur euphorischen Fortschrittsglauben, sondern auch Irritation, Skepsis und Angst vor der Zukunft. Die Zerstörung der Lebenswelt durch eine apokalyptische Katastrophe, ein permanenter Kriegszustand und Totalitarimus sind Grundthemen der Dystopie. Den Ausgangspunkt bildet meistens ein Ereignis, nach dem nichts mehr so ist, wie es einmal war.

In der Science Fiction-Literatur nimmt die Dystopie einen zentralen Platz ein: Klassiker wie die Werke der englischen Autoren H.G. Wells, allen voran The Time Machine/Die Zeitmaschine (1895), Aldous Huxleys Brave New World/Schöne neue Welt (1932) und George Orwells 1984 (1949) haben Maßstäbe gesetzt. Autoren aktueller dystopischer Literatur haben oft einen moralischen Anspruch. Ihr zukunftspessimistischer Entwurf einer Gesellschaft, die sich selbst in die Katastrophe getrieben hat, ist zugleich Mahnung und Warnung.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt