Eine verzweifelte Zeugin

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Isar - zwischen Gasteig und Müllerschem Volksbad aufgenommen. Foto: Rüdiger Rohrbach

Kurz bevor der Nähmaschinenhändler Riederer ermordet wird, ist die Näherin Emma Niedermayr noch mit ihrem Bruder Aloys bei ihm im Laden gewesen. Sie hat eine Nähmaschine umtauschen wollen. Aloys hat sie begleitet, um sie dabei zu unterstützen. Es ist zu einem Handgemenge gekommen, bei dem Riederer verletzt worden ist. Emma fürchtet, dass ihr Bruder den Nähmaschinenhändler auf dem Gewissen hat. Sie irrt verzweifelt durch die Stadt. Der Weg von der Maxvorstadt nach Haidhausen ist lang.

Nun hastete sie an Hofgarten und Residenz vorbei durch die Maximilianstraße bis zur Isarbrücke. Auf der rechten Flussseite ging es den Berg hoch und schließlich fast geradewegs auf die halb fertige Johanniskirche zu. Zu dieser frühen Stunde waren bereits viele Menschen unterwegs. Dienstmägde eilten mit Milch und frischen Semmeln zu ihrer Herrschaft. Gelegentlich musste Emma einer Kutsche ausweichen, mit der ein Offizier zu seiner Kaserne trabte. Nach all dem Prunk in den bürgerlichen Vierteln war sie froh, jenseits der Brücke auf vertrauteres Gelände zurückzugelangen. Für die neuen Prachtbauten in der Innenstadt konnte sie sich sowieso nicht so recht begeistern.

(Heidi Rehn: Blutige Hände. Emons Verlag, Köln 2006, S. 99)

Emma Niedermayr sieht für sich keine Zukunft mehr und nur noch einen möglichen Ausweg. Aus diesem Grund begibt sie sich zur Großhesseloher Brücke.

Es war, als zöge sie eine unsichtbare Kraft nach unten. Emma konnte den Blick nicht von den Fluten der Isar abwenden. Noch hielt sie sich am Brückengeländer fest. Noch erschien ihr das Wasser unerreichbar fern. Ihr wurde schwindlig, wenn sie daran dachte, wie weit es nach dort unten war. Wie ein Vogel würde sie fliegen. Ihr Herz klopfte, ob vor Angst oder Aufregung, wusste sie selbst nicht. Nur eines drang in ihr Bewusstsein: Der nächste Schritt würde endgültig sein.

Die Großhesseloher Brücke wurde im Rahmen des Baus der Bayerischen Maximiliansbahn in den Jahren von 1851 bis 1857 errichtet. Die fast 260 Meter lange und über 30 Meter hohe Brücke überquert die Isar und den Isarkanal im Münchner Süden zwischen Harlaching und Großhesselohe. Ähnlich wie andere spektakuläre Brücken erlangte sie eine traurige Berühmtheit: In den ersten hundert Jahren ihres Bestehens sprangen fast 300 Menschen in den Tod. Später wird der Fußgängerüberweg vergittert.   

Genau deshalb hatte sie sich die Brücke ausgesucht. Keine andere spannte sich so hoch über einen Fluss wie die Eisenbahnbrücke in Großhesselohe. Nach einem solchen Sprung wurde niemand mehr lebend aus dem Wasser gezogen. Ein schriller Pfiff ertönte. Emma drehte den Kopf. Eine riesige Dampfwolke schob sich näher heran. Mit lautem Dröhnen kam ein Zug aus Richtung München. Emma griff nach dem Eisengeländer und klammerte sich noch fester daran. Der Luftzug wurde stärker, drohte sie zur Seite wegzudrücken. Sie stemmte sich ihm entgegen. Der Lärm wurde ohrenbetäubend, Rußteilchen drangen ihr in Mund und Nase. Von dem schmauchenden schwarzen Stahlross trennte sie nur eine einzige Gleisspur. Das Eisen der Brücke vibrierte unter ihren Füßen.

(S. 307)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt