Die Stadt des Bieres

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Kellnerinnen beim Krugwaschen, um 1900 (Verlag und Bildarchiv Sebastian Winkler)

Wer München verstehen will, muss an einem schönen Sommertag am Chinesischen Turm oder im Augustinerkeller eine Maß Bier ge­trunken haben. Dann erst spürt er mit verklärtem Blick das Gefühl dieser Stadt, und es mag ihm ergehen wie Heinrich Heine, der 1827 von einem Bogenhauser Biergarten sinnierend auf die schneebedeckten Alpen schaute. Nicht einmal mehr die „liebenswürdigen Aristokratinnen“ und die „wunderschönen Weiberverhältnisse“ konnten ihn darüber hinwegtrösten, dass er keine Professur be­kam. Nur das Bier stimmte ihn versöhnlich. Betritt man in München eine Bierwirtschaft oder einen Bierkeller, stellt man sehr schnell fest, dass es an den Holztischen kein oben und unten gibt. Wo Platz ist, kann man sich dazugesellen, die Klassenschranken sind für eine kurze Zeit aufgehoben. Das gilt auch für die Biergärten der großen Brauereien. Der Gast sitzt, wo es ihm gefällt. Neben dem beliebten „Hellen“, einem Lager­bier, wird an der Schenke auch „Weißbier“ (Hefeweizen) und „Dunkles“ ausgeschenkt. Zum Erstaunen vieler Neubürger und Touristen kann man sich das Essen in den Biergarten mitbringen.

Das vermutlich berühmteste Wirtshaus der Welt ist das staatliche Hofbräuhaus mit Schwemme, Bierstuben, Festsaal und Garten. Her­zog Wilhelm V. ließ das Kurfürstliche Hofbräuhaus 1589 als Brauerei für seinen Hofstaat errichten, weil das heimische Bier zu schlecht und das aus dem deutschen Norden importierte zu teuer war. 1896/97 erhielt das Hofbräuhaus seine jetzige bauliche Gestalt. Viele Literaten, Musiker und Künstler aus aller Welt schauten im Hof­bräuhaus vorbei, wie Jan Neruda, Edward Elgar und Samuel Beckett. Der Reiseschriftsteller Patrick Leigh Fermor beobachtete dort 1933 das hemmungslose Gebaren der Nazi-Horden. Johann Nestroy, Schauspieler und Bühnendichter aus Wien, studierte 1845 im königlichen Hofbräuhaus genauestens die Menschen für einen Bühnenauftritt. Er spielte einen Betrunkenen so perfekt, dass ihn König Ludwig I. im Hofgarten darauf ansprach: „Aber sagen Sie mir nur, wo haben Sie denn Ihre Studien zu der hypernatürlichen Rauschszene gemacht?“ „Im königlichen Hofbräuhaus, Majestät!“, war die Antwort.

Links: Giesinger Weinbauer, um 1880. Mitte: Im Weißen Bräuhaus, um 1905. Rechts: Gastwirtsgarten in der Vorstadt, um 1920 (Stadtarchiv München).

Bierfeste ersetzen in München die Jahreszeiten. Das Bierjahr beginnt im März mit der Starkbierzeit und dem Politiker-Derblecken auf dem Nockherberg. Das Starkbier ist so nahrhaft, dass es früher vielen Mönchen über die Fastenzeit half. Auf die Fastenzeit folgt schon bald der Maibock, der gewissermaßen nahtlos in die Biergartenzeit hinüberhilft. Mit dem kräftigen „Wiesn-Bier“ zum Oktoberfest endet witterungsabhängig der Bierausschank im Freien. Für die „staade Zeit“ gibt es auf Weihnachten den Festbock, der die langen Winter­abende verkürzt. Bier ist in München traditionell ein Lebensmittel, wenn nicht gar Medizin.

Um die Qualität des Bieres wird in München seit jeher heftig gestrit­ten. Eine Zeitung nannte 1873 das Bier an der Isar sogar ein Gift, „einen Plempel, der so alle Jahr ein paar hundert Münchner umbringt“. Diesem Urteil hätte sich der italienische Abenteurer Giacomo Casanova sofort angeschlossen. Für ihn war das Münchner Bier „ein abscheuliches Getränk“. Wegen des Bierpreises brachen in München wiederholt Revolutionen aus, sogenannte Bier-Krawalle. Seit 1516 wurde alljährlich der Bierpreis von amtlichen Stellen fest­gesetzt. Als am 1. Mai 1844 die Brauereien von sich aus den Bier­preis von sechs Kreuzer pro Maß auf sechs Kreuzer fünfzig erhöh­ten, wurden zwanzig Brauereien von den Bürgern gestürmt. Am Tag darauf gab es das Bier wieder zum alten Preis. 1874 sollte der Bierpreis von acht auf neun Kreuzer erhöht werden. Die Münchner drohten mit einem Bierstreik. Doch die Bierrevolution scheiterte am Durst der Streikenden, und die Brauer setzten den Bierpreis durch.

Links: Café Greif, um 1890 (Stadtarchiv München). Mitte: Hofbräuhaus, amerikanische Touristen im Juni/Juli 1952 (Bayerische Staatsbibliothek, Archiv Timpe). Rechts: Neues Hofbräuhaus, Saal und Schwemme, um 1935 (Archiv Monacensia).

Gab es Mitte des 19. Jahrhunderts in München noch sechzig Braue­reien, so sind es heute nur noch einige wenige Großbrauereien, die sich das gigantische Geschäft ums Münchner Bier aufteilen: die Löwenbräu-Spaten-Gruppe, die Paulaner-Hacker-Pschorr-Gruppe, Augustiner und das staatliche Hofbräuhaus. Der Ausstoß wird immer größer, denn das Münchner Bier ist ein Exportschlager und wird in über fünfzig Länder geliefert. Besondere Beachtung ver­dient dabei die Augustiner Brauerei. 1328 wurde sie von Augustiner-Mönchen gegründet, genau in dem Jahr, in dem Ludwig IV. der Bayer in Rom zum Kaiser gekrönt wurde. 1803 wurde die Brauerei säkularisiert und war von 1829 bis 1981 im Besitz der Familie Johann Wagner. Heute gehören fünfzig Prozent der Edith-Haberlander-Wagner-Stiftung. Das Logo zeigt neben den Initialen J.W. den Bischofsstab des Hl. Augustinus und verweist damit auf die bierbrauenden Klosterbrüder. Gleichzeitig wird mit jeder Augusti­ner-Bierflasche weltweit an den Philosophen und Kirchenvater Augustinus aus dem heutigen Algerien in Nordafrika erinnert. Bier ist eben völkerverbindend.

Mönche brauten seit jeher Bier, und Mönche gründeten München. Jedenfalls spricht viel dafür. Das älteste Stadtwappen aus dem 13. Jahrhundert zeigt einen Mönchskopf mit Kapuze, flankiert von zwei Türmen. Der Mönch verweist phonetisch auf den Ortsnamen „Muni­chen“, der bei der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahr 1158 auftaucht. Vom 14. Jahrhundert an erscheint der Mönch im Stadt­wappen als Ganzfigur mit Evangelienbuch und Segensgestus. Im Laufe der Jahrhunderte mutierte der Stadtmönch jedoch zum Münchner Kindl. Bei der Eröffnung des Oktoberfestes sitzt es auf dem Bierfass, in das der Oberbürgermeister den ersten Zapfhahn schlägt.

Nicht jeden zieht die biertrinkende und festefeiernde Stadt in den Bann. Der Schriftsteller Franz Kafka, der zwischen 1903 und 1916 drei Mal sehr kurz vor Ort war, bezeichnete München als eine Stadt, die ihn „außer als trostlose Jugenderinnerung gar nichts anging“. Kafkas Kollege Gustav Janouch wusste dafür eine Erklärung. Ihm habe Kafka einmal gestanden: „Nichts zerstört den Menschen so gründlich wie Bier und Wirtshausquatsch. So ist es in München, und so ist es in Prag.“

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und Künstler aus aller Welt in München. Mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 177-181.