Patriotismus und Kriegsbegeisterung

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Jakob Wassermann. Nach dem Porträtgemälde von Agnes Ulmann-Speyer. Mit handschriftlicher Widmung von Jakob Wassermann auf der Bildseite (1905). ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_8087

Mit dem Erfolg des Caspar Hauser-Romans kehrte vorerst Ruhe und Frieden im Hause Wassermann ein. So befleißigte sich Jakob Wassermann, endlich eine Zusammenkunft zwischen Thomas Mann und seinen Wiener Freunden Schnitzler und Hofmannsthal zu arrangieren. Im Spätherbst 1908 reiste Mann nach Wien und unternahm mit Schnitzler und Wassermann einen Ausflug auf den Semmering. Hugo von Hofmannsthal lud Thomas Mann anschließend zu sich nach Rodaun ein. Rodaun war zu dieser Zeit noch eine eigenständige Gemeinde am Rande Wiens und wurde erst 1938 eingemeindet, Hofmannsthal bewohnte damals dort ein kleines Schlösschen. Wassermann absolvierte seine jährliche Berlin-Reise ohne größere Zwischenfälle; daheim frönte er, neben der täglichen Arbeit, seinen Hobbys Schach, Klavier und Kartenspiel und traf regelmäßig die Freunde, so auch, wie alljährlich, am Silvesterabend bei Schnitzlers.

Zum Ende des Sommers 1909 beendete Wassermann den Roman Die Masken Erwin Reiners. Nach den ruhigen Tagen in Altaussee ging es wieder nach Berlin, mitten hinein in den Kulturtrubel, Treffen mit Thomas Mann, Franz Blei, Eduard von Keyserling und Otto Brahm: „Die Tage hier ging es zu taubenschlagmäßig bei uns zu: Wassermann, Mann, Hauptmann – Männer kamen, Männer gingen.“ Samuel Fischer wurde am 24. Dezember 1909 fünfzig Jahre alt, seine Autoren, allen voran Wassermann, Dehmel und Hauptmann, widmeten ihm eine kleine Dankesschrift. Fischers pflegten weiterhin ihr offenes Haus und empfingen viele Gäste. Auch Thomas Mann war häufig anwesend.

Am 1. August 1914 erklärte Kaiser Wilhelm II. Russland den Krieg und verkündete seinem Volk, dass nun jeder Parteienstreit aufzuhören habe: „Wir sind nur noch deutsche Brüder.“ Er sprach damit vielen Menschen aus dem Herzen und variierte fortan dieses Thema. Am 4. August, bei der Eröffnung des Reichstages, verkündete er: „Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur Deutsche.“ Dieser Satz ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen hängen geblieben.

Professoren, Schriftsteller und bildende Künstler übertrafen sich in Bekundungen des Deutschtums. Auch Wassermann schien vom Ausbruch des Krieges erfasst und notierte am 9. August 1914 siegessicher in sein Tagebuch: „Die Deutschen haben Lüttich gestürmt. Große Begeisterung. Ich sehe einen großen Sieg Deutschlands und des Deutschtums voraus. Deutschland wird Weltmacht. Gott schütze uns dann vor Übermut!“ Zehn Tage später hört sich die Begeisterung schon stark gedämpft an: „Bin trotz der beständig einlaufenden Siegesnachrichten tief verstimmt. Wenn eine Welt im Blut schwimmt, wie sollte man sich da freuen können?“ Eigentlich wollte sich Wassermann sofort freiwillig melden, doch seine Frau wusste dies zu verhindern, selbst als er heimlich mit dem Fahrrad zur Meldestelle fahren wollte. Trotz dieser Versuche nahm Freund Schnitzler Wassermanns Kampfeswillen nicht ernst. Wassermanns wankelmütiges Verhalten bestärkte ihn in seiner Skepsis: „W – und der Krieg. Er ist wie immer drollig – in seinem Gemisch von Begeisterung und Schwindelhaftigkeit. Angeblich will er durchaus mit [...] aber einerseits lässt es Julie nicht – anderseits ist er untauglich, aber er hält es nicht mehr lange aus [...] dann stellt er sich wieder Hugo für October zur Verfügung.“

Im September 1914 erhielt Wassermann auf seine erneute Anfrage hin vom Bezirkskommando München den endgültigen Bescheid der Frontuntauglichkeit, aber er weigerte sich, sich damit abzufinden. Bei Schnitzler jammerte er herum, doch dieser traute ihm den festen Willen nicht zu. Mit jedem neuen Kriegstag wuchs unterdessen seine Ablehnung: „Mein Kopf, mein Herz erträgt die innerlichen Bilder von Blut, Not, Tod und Elend kaum mehr. Selbst wenn ich an das vor Schrecken zitternde, nachts aus Furcht vor Luftschifferbomben lichtlos liegende Paris denke, krampft sich mir die Brust zusammen. Die Menschheit schwimmt in einem Blutbad. Nichts kann einen retten als die Wärme eines Tieres, oder Schlaf, Schlaf.“

Doch dann schöpft er wieder Hoffnung aus dem Krieg und prophezeit fundamentale gesellschaftliche Veränderungen am Ende des Krieges:

Die alte Feste Europa wird ordentlich durchschüttert und Revolutionen werden diesem Krieg folgen, die eine Neuordnung alter Bestände herbeiführen werden. Denn eigentlich ist dieser ganze Krieg doch eine Konsequenz der kapitalistischen Ordnung; der Geist, die Vernunft, die Einsicht, die wahre Natur war zurückgesetzt, hatte kein Wort im Spiel, niemals. So kann die Welt nicht weiter bestehen, da ist etwas morsch im Gefüge der Staaten, und Blut fließt, edles Blut, stromweise edles Blut, für, so will ich hoffen oder ich will nicht mehr weiter leben, für eine große Idee, für die Vermenschlichung der Menschheit.

Mit dieser Haltung stand er nicht allein, schon gar nicht bei den Juden, aber auch nicht bei den Autoren, von denen sich auch viele freiwillig gemeldet hatten. Während manche Juden beweisen wollten, dass sie besonders gute Deutsche waren, erhofften sich die Künstler eine neue deutsche Nation mit demokratischem Antlitz.

Wassermann wurmte, dass man ihn nicht an die Front schickte, um damit auch den letzten Zweifel an seiner vaterländischen Gesinnung beseitigen zu können. In mehreren Aufsätzen positionierte er sich, wenn auch hinter zeittypischer Rhetorik versteckt, als Verfechter nationaler Interessen, als deutscher Patriot: „Ein Mensch ohne Nationalgefühl ist wie einer ohne Glauben und ohne Gott.“

1915 erschien Wassermanns Roman Das Gänsemännchen und 1919 der zweiteilige Roman Christian Wahnschaffe. Während dieser Roman beim breiten Publikum auf große Zustimmung stieß und mit Wahnschaffe sogar eine Art Symbolfigur offerierte, zeigten sich die Kollegen und Freunde, eigentlich wie immer, gespalten in ihrer Reaktion auf das Buch. Für Thomas Mann löste der Roman seine Ansprüche nicht ein – er schreibt im Tagebuch „weltläufige Geschwätzigkeit. Mondänes Kino“. 

Vom Kriegsende 1918 über die Novemberrevolution und die Weimarer Republik bis hin zum Beginn des Nationalsozialismus wäre die politische Geschichte einzuteilen, die dem letzten Lebensabschnitt Jakob Wassermanns entspricht. Der Krieg war als Chance begriffen worden, nun war er verloren. Stattdessen stürzte man den Kaiser, die Novemberrevolution erschütterte das Reich. Die Nationalversammlung von Weimar etablierte die Weimarer Republik, aber zahlreiche Putschversuche von links und rechts führten das Land in eine völlig offene Situation, instabil und anfällig für Extremisten jeglicher Couleur. Der Versailler Vertrag, der Verlust der Montan-Industrie, die hohen Reparationszahlungen, die Inflation, die Arbeitslosigkeit der Nachkriegsjahre und die Weltwirtschaftskrise 1929 taten ein übrigens, um im Bürgertum Resignation und Privatismus, bei den Völkisch-Nationalen Aufbruchstimmung und Massenemphase auszulösen.

In der Literatur war der große Aufbruch vorbei, die literarische Moderne, die am Ende des 19. Jahrhunderts den Traditionsraum durchbrochen hatte, war nun ihrerseits ein Traditionsraum geworden. Die Erneuerer von einst wie Gerhart Hauptmann, Alfred Döblin und Thomas Mann näherten sich ihrem Alterswerk. Und am Ende dieser Epoche, die man mit Expressionismus nur sehr unzulänglich beschreiben mag, mussten deutsche Schriftsteller den Weg ins Exil antreten – ein bislang beispielloser Vorgang in der Geschichte unserer Literatur.

Den rückschauenden Betrachter, der die deutsche Geschichte seit der Reichsgründung verfolgt, vermag der Jubelchor bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht zu überraschen. Aber dass auch die namhaften Schriftsteller der Moderne in diesen Chor einstimmten, war von ihrer Literatur her nicht zu erwarten gewesen. Diese vorübergehende Verträglichkeit dessen, was sich nicht vertragen sollte, zeigt sich im Fall Thomas Mann überdeutlich, und sie dauerte auch länger als bei anderen. Bis zum Ende des Krieges war er, vielfach quälend, mit sich selbst und der Stellung seiner Literatur in der Zeit befasst. Die Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) zeigen es, in die erkennbar antidemokratisches Denken eingegangen ist. Dass trotzdem die Positionen der modernen Literatur nicht einfach preisgegeben wurden, ist evident.

Verfasst von: Dr. Thomas Kraft