Wer die Grenzen weitet

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Allerdings gibt es Kollegen, die die Grenzen journalistischen Schreibens, weil sie sie kennen, ausreizen, in manchen Fällen sogar erweitern. Roland Schulz etwa duzt in „Ganz am Ende“ seine Leser konsequent, eigentlich ein Tabu. Oder Marie-Luise Scherer. In dem Familienportrait „Auf deutsch gesagt: gestrauchelt‘“ von 1979 montiert und gewichtet sie die Worte ihrer Protagonisten roh und gekonnt, wie ich es allenfalls von Henning Sußebach kenne, etwa in seinem berühmten Portrait eines Flaschensammlers „Hoffmanns Blick auf die Welt“. Die drei Texte lassen erkennen, dass die Montage, der Textaufbau der Bereich ist, wo Journalisten die größte literarische Freiheit haben.

Ich habe das Gedankenexperiment gemacht, diese tollen Texte zu lesen als wären sie Belletristik. Das Ergebnis: Als solche wären sie nur mittelmäßig. Sie stoßen einfach oben an, an der Grenze ihres Metiers, innerhalb dessen sie allerdings unerreicht sind. Probieren Sie es aus. Und lesen Sie zum Vergleich diese Erzählung von Kristen Roupenian. Es ist die Geschichte einer Frau, die wahnsinnig schlechten, einvernehmlichen Geschlechtsverkehr hat. Oder ist das falsch zusammengefasst? Ist vielleicht genau diese Zusammenfassung das Problem? Würde nur ein Mann den Text so zusammenfassen und sollte sich eins schämen? Vielleicht, lautet die Antwort, und diese Verlegenheit gründet nicht nur auf der Beschränktheit dessen, der hier schreibt, sondern auch auf der schimmernden Qualität des Textes.

Verfasst von: Andreas Unger