Wenn die Einbildungskraft nicht reicht, wird eben recherchiert

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Der Schriftsteller-Lehrling in mir stellte dem erfahrenen Journalisten seltsame Fragen: Wie plausibel ist deine Geschichte? Und wie wichtig ist überhaupt Plausibilität? Und wie wichtig ist überhaupt die Geschichte? Wie klinge ich nicht wie eine Vorabendserie? Kann man erfundenen Menschen gerecht werden, kann man ihnen unrecht tun? Soll ich Sprachklischees meiden, auch wenn meine Figuren sie bedenkenlos verwenden würden? Dürfen die Figuren schlagfertiger sein als sie es im echten Leben wären, und was ist das echte Leben, und taugt es als Referenz, und brauche ich eine Referenz?

Wenn ich aus der Phantasie schöpfte, mischten sich häufig Klischeefiguren, -bilder, -handlungen und -konflikte ein. Ich merkte, wie viele Bücher und Filme ich mit mir herumtrage, als mir deren Figuren plötzlich die Sicht auf mein Hörspiel verstellten: Nina Kunzendorf, Meta, Steve Buscemi, Anna Maria Sturm, Walter Sedlmayr, James Cromwell, Oskar Maria Grafs Mutter Therese Graf – wo immer ich hinblickte, sahen sie mich an. In dieser Not griff ich auf eine erprobte journalistische Technik zurück: Ich recherchierte mehr. So besorgte ich mir ein reales Anhörungsprotokoll, das ich dann in verfremdeter Form verwendet habe. Ich hatte einfach das Gefühl, es wäre anmaßend, eine Fluchtgeschichte zu erfinden. Nur, dass ich mich beim Erfinden auch noch an die Realität angelehnt hatte, brachte mein schlechtes Gewissen erst so richtig auf Trab.

Als Journalist bin ich es seit über 20 Jahren gewöhnt, mich an das zu halten, was die Realität mir liefert. Nur innerhalb dessen kann ich gewichten, streichen, hinzurecherchieren, interpretieren. Innerhalb dieses Korsetts fühle ich mich leidlich sicher. Beim Schreiben des Hörspiels aber fühlte ich mich wie ein Häftling, den der Wärter ohne Vorwarnung vor die Türe setzt und dem das Sonnenlicht in die Augen sticht. Als ich meine Not der betreuenden Redakteurin erzählte, winkte sie ab: Sie kenne Autoren, die erst den ganzen Text erfinden und ihn dann auf die einzelnen, natürlich ebenso erfundenen, Figuren verteilen! Niemals hätte ich das gewagt. Beim Kreativsein stand mir die eigene Moral im Wege.

Zum ersten Mal fiel mir auf, wie stark sich fiktionales und nichtfiktionales Erzählen nicht nur hinsichtlich des Ausgangsmaterials unterscheiden, sondern vor allem hinsichtlich der Freiheitsgrade und der daraus folgenden Möglichkeiten, die dann ja auch genutzt werden wollen.

Ironischerweise ist es ein Journalist, der diese Erfahrung am schönsten formuliert hat, Constantin Seibt: „Das Schreiben eines Textes ist ein Massaker an all seinen Varianten.“ Wenn das schon für Journalismus gilt, dann umso mehr dort, wo schon der Stoff einen zu keiner Entscheidung zwingt und dann auch noch Länge und Form frei wählbar sind.

Verfasst von: Andreas Unger