Mehr Menschenfleisch

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Robinson Crusoe findet Reste einer Kannibalenmahlzeit, S. 129 der tschech. Ausgabe von 1894 (mit Ill. von Walter Paget).

Daniel Defoes Roman Das Leben und die unerhörten Abenteuer des Robinson Crusoe erschien zuerst 1719, hundert Jahre vor Melvilles Geburt. Wahrscheinlich hat Melville das Buch gekannt, als er Typee schrieb. Unsere Idee von Menschenfresserei hat Defoe bis in unsere Generation hinein nachhaltig mitgeprägt. Im Unterschied zu Melville, dessen Anmerkungen zum Thema auf eigener Anschauung beruhen könnten, handelte es sich bei den Schilderungen Defoes sicher um Fantasien. Nach Erscheinen von Typee feierten einige Kritiker Herman Melville als den neuen Defoe. Andere hatten Zweifel an der Authentizität seiner Schilderungen. Einer mutmaßte sogar, ein Autor mit einem derart seltsamen Namen – angeblich aus Amerika – müsse selbst eine Fiktion sein.

Im Unterschied zu Melville glaubte man Defoe jedes Wort. Über den Kannibalismus schrieb der alte Meister:

Als ich so auf sie [eine Gruppe Wilder, die mit Booten auf der Insel gelandet sind] hin schaute, sah ich durch mein Perspektiv, wie zwei arme Teufel aus den Booten, wo sie anscheinend gelegen hatten, herausgezerrt und zur Schlachtbank gezerrt wurden. Einen davon sah ich sogleich zu Boden stürzen. Er war wohl mit einem Prügel oder hölzernen Schwert niedergeschlagen worden, wie es ihre Art war, und zwei oder drei andere fielen gleich über ihn her und schnitten ihn auf für ihre Küche, während man das zweite Opfer daneben stehen ließ, bis die Reihe an ihn kam. Diesen Augenblick ersah sich der arme Mensch ein wenig Freiheit, die Natur erfüllte ihn mit Hoffnung aufs Überleben, er stürzte davon und rannte mit unglaublicher Schnelligkeit das Ufer entlang gerade auf mich zu, d.h. gegen den Teil der Küste hin, wo meine Wohnung lag.

[...] als wir uns näherten, stockte mir das Blut in den Adern, und das Herz sank mir in der Brust bei dem grässlichen Schauspiel; es war in der Tat ein entsetzlicher Anblick, zumindest für mich, denn Freitag schien sich nichts daraus zu machen: Die Stelle war übersät mit Menschenknochen, die Erde von ihrem Blut gefärbt, große Fleischfetzen lagen überall herum, halb angebissen, zerfetzt und geröstet, kurz mit allen Anzeichen des Siegesfestes, dass die Wilden nach Überwindung ihrer Feinde hier veranstaltet hatten. Ich sah drei Hirnschalen, fünf Hände, die Knochen von drei oder vier Beinen und Füßen sowie von allen übrigen Teilen des Körpers. Freitag erklärte mir durch Zeichen, dass sie vier Gefangene zum Schmause mitgebracht hatten; drei davon wären nun verspeist, und er, dabei zeigte er auf sich selber, sei der vierte ...

Während Freitag seinen Appetit bei diesem Anblick kaum zügeln kann, beerdigt Robinson die sterblichen Überreste der verzehrten Menschen. Woran liegt es, dass man Defoe eher Glauben schenkte als Melville? Vielleicht ist es die bloße Aufzählung („fünf Hände, ...“), die für den vermeintlichen Realismus sorgt. Vielleicht ist es auch gerade die Kunst, die Fantasien der Leser zu bestätigen, die Defoes Schilderung echter erscheinen lässt, als die Wirklichkeit es je sein könnte. Sicher half der nicht zu irritierende moralische Kompass Robinsons der Leserschaft, die grausame Szene zu verdauen: Zivilisierte Menschen würden so etwas niemals tun. Melville dagegen kannte die Geschichte von Owen Chase, seine Kompassnadel musste sich wie irre im Kreis drehen. Die Wahrnehmung des Elends, die der weiße Kolonialismus über die indigenen Völker des Südpazifiks brachte, die moralischen Entgleisungen der Weißen entgingen ihm nicht.

Verfasst von: Thomas Lang